Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ludger<br />
Schwarte<br />
139<br />
Vernunft<br />
für alle !<br />
12 – Ebd.<br />
13 – Ebd., S. 247.<br />
14 – Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft,<br />
Werkausgabe Bd. IV., Frankfurt a. M. 1968,<br />
S. 442.<br />
15 – Ebd., S. 249f.<br />
16 – Rancière 2008, S. 41.<br />
17 – Ebd., S. 42.<br />
«Es gibt kein ästhetisches transzendentales Ich. Bestenfalls ein<br />
Vor-Ich, ein Prä-Cogito, eine gleitende Synthese zwischen den<br />
Vermögen, die Ich nicht zu meiner Aufgabe mache, deren<br />
‹Natur› Ich vielmehr bin. Das Subjekt ist nicht zeitlicher Träger<br />
oder Synthesemacht der Lust, man kann also nicht sagen, dass<br />
sich mit der Lust im Inneren des Subjektes eine Zweckmässigkeit<br />
des Subjekts für die Erkenntnis kundtut […].» 12<br />
Für Lyotard operiert der Geschmack auf einer kategoriell<br />
anderen Stufe als die Vernunft, und nur deshalb kann er<br />
ihm Universalität zusprechen:<br />
«Die Gemeinschaft hat kein Inneres zu schützen. Und<br />
schließlich darf man ebenso wenig sagen, dass sie eines haben<br />
wird, wenn das Subjekt einst geboren sein wird, dass man vom<br />
Gefühl zum Begriff, von der Kunst zur Philosophie, vom sensus<br />
communis zum intellectus communis, zum Ich denke gelangen<br />
wird. Denn dieser Übergang existiert nicht. Es gibt hier keine<br />
Überleitung zwischen der Reflexion und der Bestimmtheit, zwischen<br />
dem Verwandtschaftssubstrat der Vermögen und der<br />
ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption. Die<br />
Substanz wird nicht zum Subjekt. Es ist wesentlich für das Subjekt,<br />
dass es sich als Substanz verkennt […].» 13<br />
Wenn Lyotard hier die Natur bzw. die Substanz gegen das<br />
epistemologische Subjekt ausspielt, so will er das Unvordenkliche<br />
gegen den Vernunft-Leviathan, gegen das «dauerhaft<br />
ruhige Regiment der Vernunft über Verstand und<br />
Sinne» 14 in Anschlag bringen. Dabei vollzieht er aber eine<br />
Trennung, zwischen dem Gemeinsamen (Natur, Substanz),<br />
das nur fühlt, und dem singulären Denken. Er zieht eine<br />
Unterscheidung nach, die sich schon durch Kants gesamtes<br />
Oeuvre zieht und diese motiviert: Die Kritik der Vernunft<br />
ist bei Kant weniger eine Selbstkritik der Vernunft,<br />
als vielmehr eine Reinigung der Vernunft von allem<br />
Sinnlichen.<br />
Bei Lyotard freilich mit einer anderen Pointe: Das<br />
Gefühl kann, in Literatur und Kunst, aufbegehren, sich<br />
entziehen, Widerstand leisten. Aber es muss vom Denken<br />
regiert bleiben. An der kantischen Unterordnung ändert<br />
sich auch bei Lyotard nichts. Dies wird deutlich in der folgenden<br />
Passage:<br />
«Das Gefühl des Schönen ist das Subjekt in statu nascendi […].<br />
Es entkommt der Beherrschung durch Begriff und Willen […].<br />
Dies ist also ein Gebiet, das der Gründung und Seßhaftwerdung<br />
Widerstand leistet, ein Gebiet, in dem sich einschreibt und verbirgt,<br />
was geschieht, und zwar ‹bevor› man weiß, was es ist […].<br />
Das ist die Aufgabe der Literaturen und Künste […].» 15<br />
Auch Jacques Rancière schliesst explizit an Kant und Schiller<br />
an, um die widerständige Sonderrolle der Kunst zu betonen.<br />
Die Situation, in der die Kunst diese Rolle einnehmen<br />
kann, nennt Rancière «ästhetisches Régime».<br />
18 – Er fährt fort: «Das ist keine Frage einer idealistischen<br />
Utopie: Das ästhetische Regime der<br />
Kunst erstellt als Bedingung der Möglichkeit<br />
von ästhetischer Erfahrung eine neue Aufteilung<br />
des Sinnlichen. Es schließt in eben dieser<br />
Konstitution dieser Erfahrung eine politische<br />
Dimension in sich ein.» Ebd., S. 43.<br />
Dieses «ästhetische» unterscheidet er vom ethischen<br />
auf der einen und vom Regime der Repräsentation auf der<br />
anderen Seite. Mit dem ethischen Regime meint Rancière<br />
die lange dominierende Auffassung von Platon und Aristoteles,<br />
Kunst sei ein Erziehungs- und Therapiemittel innerhalb<br />
der Seinsweisen einer Gemeinschaft. Als Régime der<br />
Repräsentation bezeichnet Rancière die klassische Theorie<br />
einer Entsprechung von Produktions- und von Wahrnehmungsregeln.<br />
Dank dieser Korrespondenz von Poiesis und<br />
Aisthesis können technische Erfindungen präzise Affektionsformen<br />
auslösen, was sich auch in einer Hierarchie der<br />
Genres und Sujets niederschlägt. Nicht zuletzt dank Kant<br />
und Schiller jedoch gebe es, so Rancière, im ästhetischen<br />
Regime keine Entsprechung mehr zwischen den Produktionsregeln<br />
der Künste und den Gesetzen der menschlichen<br />
Sinnlichkeit. Das ästhetische Régime der Künste schaffe<br />
die «hierarchische Aufteilung des Sinnlichen» ab. Und<br />
zwar zugunsten einer Ausgliederung der Kunst in eine<br />
«eigene Sphäre der Erfahrung.» 16 In dieser Sphäre ästhetischer<br />
Erfahrung regiert soziale Gleichheit:<br />
«Wenn Kant das Schöne ausgehend vom freien, nichthierarchischen<br />
Spiel zwischen dem intellektuellen und dem sinnlichen<br />
Vermögen definiert, wenn er zwischen dem Objekt des ästhetischen<br />
Urteils und dem Objekt der Erfahrung des Begehrens<br />
unterscheidet, unterstreicht er diese doppelte Suspension einer<br />
Hierarchie der Erkenntnis und einer Hierarchie der Güter und<br />
der Größen. Schiller radikalisiert dies: Die ästhetische Erfahrung<br />
ist der Ruin der Hierarchien, die den Stoff der Form, die<br />
Sinnlichkeit der Intelligenz, die Passivität der Aktivität unterwarfen.<br />
Sie ist der Ruin der Aufteilung des Sinnlichen, die die<br />
Herrschaft über den Unterschied einer sinnlichen Befähigung<br />
zwischen Menschen mit entwickelten Sinnen und Menschen<br />
mit groben Sinnen regelte.» 17<br />
Rancière lobt also Kant und Schiller dafür, dass sie die<br />
Autonomie ästhetischer Erfahrung gegenüber den Dimensionen<br />
der Erkenntnis und des Konsums herausgearbeitet<br />
haben, dass sie die Hierarchie der Sujets aufgelöst haben<br />
und den Kunstgenuss der Elite entzogen, profaniert, für<br />
alle geöffnet haben.<br />
Dass darin die Ästhetik tatsächlich eine Alternative zur<br />
Abstraktheit politischer Aktionen ist, zeigt sich in der<br />
anschliessenden Passage:<br />
«Das ermöglicht (Schiller), eine Freiheit und Gleichheit zu entwerfen,<br />
die sinnliche Realitäten und nicht einfach legalistische<br />
oder staatliche Formeln sind. Auf dieser Schicht ruht der Traum<br />
einer ästhetischen Revolution auf, der in den Formen der erlebten<br />
Erfahrung selbst eine Freiheit und eine Gleichheit realisierte,<br />
die in ihren rein politischen Formen immer dazu verurteilt<br />
wären, abstrakt zu bleiben.» 18<br />
Der künstlerische Universalismus, wie Rancière ihn mit<br />
Kant und Schiller konzipiert, kommuniziert ein neues