Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Michaela Ott<br />
Dieter Mersch<br />
Mirjam Schaub<br />
Kunst und<br />
Wissen<br />
Ein Gespräch<br />
über Virtualität<br />
und die<br />
schwarze<br />
Billiardkugel<br />
Kunst<br />
Michaela Ott<br />
Jüngst hat die Wissenschaftstheoretikerin<br />
Isabelle Stengers davon<br />
gesprochen, dass Naturwissenschaft<br />
heute ihren Gegenstand nicht mehr<br />
über das Prinzip der «omnis determinatio<br />
est negatio» konturiert, sondern<br />
wie die Kunst von «Unbestimmtheitsbereichen»<br />
(Deleuze) und a∞rmativen<br />
Determinationsverfahren ausgeht, das<br />
heisst zu bestimmen sucht, welche<br />
Komponenten des komplexen Wirklichen<br />
sie ins Verhältnis zu setzen, in die<br />
Sichtbarkeit zu heben und in ihrer<br />
Relationalität der Untersuchung unterziehen<br />
will. Aufgrund der Nähe zu<br />
gewissen künstlerischen Praktiken<br />
scheint mir heute eine erneute Annäherung<br />
zwischen Wissenschaft und Kunst<br />
vor sich zu gehen. Stengers betont<br />
zudem, dass die hier eingerichtete Relationalität<br />
als eine der wechselseitigen<br />
A∞zierung und Modellierung der Elemente<br />
verstanden und reflektiert werden<br />
muss.<br />
Mirjam Schaub<br />
Kannst du dafür ein Beispiel geben?<br />
Michaela Ott<br />
Ein mögliches Beispiel könnten die<br />
filmischen Recherchen von Harun Farocki<br />
sein, der mittels Montage von dokumentarischen<br />
und Spielfilmmaterialien<br />
mediale und politische Probleme erhellt.<br />
Sowohl wissenschaftliche wie künstlerische<br />
Praktiken lassen heute deutlich<br />
werden, dass sie nicht mehr auf die Produktion<br />
finiter Gegenstände abzielen,<br />
sondern auf unterschiedliche Aktualisierungen<br />
eines differentiellen Wirklichen.<br />
Wissenschaften wie Künste verfügen<br />
über verschiedene Vermögen des Hervorkehrens und Unterschlagens<br />
dieser Differentialverhältnisse und ihrer sich wechselseitig<br />
bedingenden Dynamiken; sie sind als solche prinzipiell gleichrangig,<br />
wenn sie auch unterschiedliche Bereiche des Wirklichen thematisieren.<br />
Nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus erkenntnistheoretischer<br />
Perspektive eröffnet sich Welt als Immanenzplan<br />
in Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit unserer Erhellungsverfahren,<br />
d. h. von den vielfältigen haptischen, affektiven, perzeptiven<br />
und kognitiven Wissensweisen, die ihrerseits durch die gegebenen<br />
medialen, technischen und kulturhistorischen Felddynamiken<br />
a∞ziert und in diese eingebunden sind. Die Frage, was wahrnehmbar<br />
gemacht und gezeigt werden kann, ist daher zu ergänzen durch<br />
die Frage, welche nicht-sichtbaren und nicht-sichtbar-zu- machenden,<br />
aber als grundlegend anzunehmenden Konstellationen die<br />
künstlerischen und wissenschaftlichen Problematisierungen mitbedingen,<br />
welches implizite Wissen und welches Nichtwissen sie<br />
mitkonturieren.<br />
Mirjam Schaub<br />
Das klingt immer noch sehr abstrakt, aber ich weiss, du meinst<br />
das ganz konkret. Wenn ich das von dir Gesagte wie Michel de<br />
Certeau als eine Aufgabe von «L’art de faire» begreife, liege ich<br />
dann richtig?<br />
74