Die Geschichte von dem segelnden Mädchen ist in Caracas angesiedelt. Chacels Erinnerungen gehen also nicht nur ihrer Geburt voraus, sondern erstrecken sich ebenfalls auf ferne Kontinente, kommen von Orten, wo sie sich als Kind nie aufgehalten hat. So wie sie beansprucht, Erinnerungen zu haben, die nicht einem früheren Leben angehören, sondern einem Leben vor ihrer Geburt, vor dem genauen Datum ihres Geburtstags, so behauptet sie ebenfalls, dass die Geschichten, an die sie sich erinnert, keineswegs «abgelegene Begebnisse in ihr» sind; vielmehr soll sie selber eine Tatsache in diesen Begebnissen sein, einen festen Ort in ihren Erinnerungen haben. Chacels Leben wird also weder von abstrakter Zeit, von dem genauen Datum ihres Geburtstags, noch von abstraktem Raum begrenzt, von den Orten, wo sie aufwuchs. Sie ist frei von den Einschränkungen, die die Geburt auferlegt, ja die die Geburt nur dann auferlegt, wenn man sie missversteht, als ein Ereignis, dass ein blosses, zufälliges Datum anzeigt, als eine Geburt, die nicht «meine Geburt» ist. Diese Freiheit erlaubt es Chacel, dem Leser glaubhaft zu versichern, nichts könne sie gezwungen haben, in diese Welt geboren zu werden, hätte sie nicht geboren werden wollen. Sie verwirft folglich Gemeinplätze des Verdrusses wie den, man werde geboren, ohne gefragt zu werden, oder den, man sei nicht verantwortlich dafür, dass man geboren wurde. Aber wie soll man, nimmt man die Schriftstellerin ernst, verstehen, dass die beiden Geschichten, die sie erzählt, als ihre Erinnerungen gelten müssen? “Die beiden Ereignisse gehören zu meinen Erinnerungen, weil ich mich nicht daran erinnere, dass man sie mir erzählt hat; ich betrachte sie als etwas, das ich erlebt habe.» 13 An dieser Stelle muss man zwischen dem nur Erzählten, das von dem Zuhörer nicht erlebt wurde, und dem selber Erlebten, das an die Erzählung eines anderen gebunden ist, unterscheiden. Man kann mir eine Geschichte so lebhaft erzählen, dass ich sie mir zueigen mache, sie gleichsam in meine Erinnerung eingeht, als hätte ich sie selber erlebt oder als würde sie ein Ereignis aus meinem eigenen Leben festhalten. Vergangene Ereignisse können aber auch so erzählt werden, man kann auch so über sie reden, dass ich, der zuhöre, ohne ausdrücklich angesprochen zu werden, mich angesprochen fühle, als hätte man mich beim Namen gerufen. Diese Ereignisse sind dann meine Erinnerungen, sie beziehen sich auf Dinge, die «in mir waren bevor ich mir überhaupt eine Meinung bilden, eine Ansicht haben konnte». 14 Ich werde, wie Chacel schreibt, von einer «Bewegung» getragen, in die sich das «Sein, das sich gerufen fühlt, eingliedert». 15 Es handelt sich folglich um Dinge, die sich, wenn über sie gesprochen wird, «in mir aufrichten». Die Bewegung, um die es hier gehen soll, ist eine hebende Bewegung, die den Leser an das Wunder des wiedererweckten Lazarus’ mahnen mag. Freilich ist bei Chacel das, worüber die Erwachsenen reden, nicht an einem anderen Ort, in einer von einem Stein versperrten Höhle, die als Grab dient, sondern in ihr selbst, doch ist es in ihr wie etwas Lebloses, Totes, Steinernes, Lapidares. Das Reden erweckt es zum Leben, lässt es lebendig hervor- und auftreten; die Dinge richten sich auf, als hätte man sie ins Leben zurückgerufen, als hätte man ihnen Leben eingehaucht, indem man sie beim Namen rief. Ihr Name ist Chacels eigener Name, da sie ja in ihr erstehen, wiedergeboren werden, während im Aussen der erwachsenen Rede die Erstarrung des Todes oder ein Scheinleben vorherrschen. Das Leben des Erzählten und Vernommenen, das beim Namen gerufen wird, ist untrennbar von dem Leben des Vernehmenden, der einen Namen trägt, ein einzelner ist, von anderen unterschieden, eben weil der Vernehmende noch nicht geboren war, als sich die erzählten Geschichten ereigneten, die Dinge und Angelegenheiten, um die sie kreisen, gegenwärtig waren; eben weil das Leben des Vernehmenden sich auf ein Leben vor seiner Geburt erstreckt, auf ein Leben «ohne Meinung» und «ohne Ansicht». Das Sein, das sich in den Namen eingliedert, so dass Sein und Namen untrennbar der vom Rufen ausgelösten, im Rufen bestehenden Bewegung zugehören, ist sowohl das Sein der Schriftstellerin als auch das Sein der Dinge, über die geredet wird. «Meine Geburt» lässt sich nicht auf das genaue Datum meiner Geburt zurückdatieren. Wenn Jesus ruft: «Lazarus, veni foras» oder «Lazarus, komm heraus», dann setzt der Befehl nicht die Existenz eines Subjekts voraus, das Lazarus heisst. Lazarus ist tot, man kann ihn nicht auffordern, dies anstatt jenes zu tun. Es ist das Rufen selbst, das das Sein mit Leben füllt, dass das Sein aus sich herauskommen, ins Leben treten lässt. Ist die Erfahrung, von der Chacel am Anfang ihrer Autobiographie berichtet, nicht die Erfahrung des Schriftstellers oder Künstlers, die Erfahrung dessen, der schöpferisch ist? Muss der Künstler nicht immer in der Lage sein, in der Chacel hier ist, in der Lage dessen, der Erinnerungen an eine Zeit vor der Geburt hat, vor jedem «genauen Datum» eines Geburtstags? Diese Erinnerungen, von Meinungen und Ansichten unberührt, sind nichts anderes als die Werke des Künstlers. Die Geburt des Künstlers ist stets «seine Geburt», jedoch nicht als nachträgliche Bestätigung, Einholung, Einbeziehung oder Aneignung der Geburt, hängt doch diese Geburt von einem Rufen ab, über das der Künstler durch keine Entscheidung oder Wahl verfügen kann. Der Künstler ist jener, der das Leben nicht verfluchen kann, der geboren werden will, weil er immer vor seiner Geburt lebt, weil er das, worüber geredet wird, was getan wird, ja was der Fall ist, durch einen Ruf wahrnehmen kann, wie Chacel ihn beschreibt; weil sich also die Dinge in ihm ansichtslos aufrichten können, unvermittelt durch ein subjektives Interesse. 154
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