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Erich<br />
Hörl<br />
Jörg<br />
Huber<br />
11<br />
Technoökologie<br />
und<br />
Ästhetik<br />
von etwas nie Dagewesenem, um radikale<br />
Hervorbringung, um heterogenetische<br />
und autopoietische Prozesse, um<br />
Kreation und nicht um Produktion im<br />
klassischen Sinn von Herstellung, wie<br />
er für das arbeitende Subjekt zu veranschlagen<br />
war. (Und ich denke immer<br />
mehr, hier durchaus auch gegen Guattari<br />
und gewissermassen als Markierung<br />
einer gewissen Grenze von dessen<br />
Denken, dass die Produktion im Augenblick<br />
ihres Totalwerdens am Ende ist,<br />
wir eine andere Ontologie als diejenige<br />
der Produktion brauchen, die selbst in<br />
diesem radikalen Kreationismus meiner<br />
Meinung nach noch ein Stück weit<br />
nachklingt. Dass Sein Produktion ist<br />
und umgekehrt die Produktion auf das<br />
Sein verweist, dass Sein und Produktion<br />
gleichursprünglich sind, wie das<br />
kürzlich Peter Trawny (im Anschluss an<br />
Spinoza, Schelling, Marx, Nietzsche,<br />
Bergson, Deleuze) pointiert hat, ist<br />
zumindest zu überprüfen. 3 ) Darauf<br />
ruhte Guattaris ganze Hoffnung für ein<br />
postmediales, d. h. bei ihm postmassenmediales<br />
Zeitalter jenseits der etablierten<br />
unterwerfenden oder unterjochenden<br />
Subjektivierungsregime. Diese<br />
ganzen kreationistischen Bestimmungen,<br />
und genau das ist nun der springende<br />
Punkt, halten sich in nächster<br />
Nähe der «technischen Aktivität» bzw.<br />
der «technischen Anstrengung» auf,<br />
wie sie Simondon als Gegenbegriff zur<br />
Arbeit und zum «Paradigma der<br />
Arbeit» als dem Kern der überlieferten<br />
Sinnkultur beschrieben hat. Bei<br />
Simondon wird die technische Aktivität<br />
Träger und zentrale Aktivität der vollkommen<br />
neuen technologischen Sinnkultur.<br />
4 Die heutigen Kreativindustrien<br />
versuchen genau diesen Typus von<br />
Aktivität industriell neu zu besetzen,<br />
den Sinn von Kreation zu reterritoriali-<br />
3 – Für eine erste Analyse des Totalwerdens<br />
der Produktion, von der<br />
aus weiterzudenken ist, siehe<br />
Gérard Granel, «La production<br />
totale» (1992), in: Granel: L’éclat,<br />
le combat, l’ouvert, hrsg. von<br />
Jean-Luc Nancy, Élisabeth Rigal,<br />
Paris 2001, S. 37–43. Peter Trawny<br />
forciert in seinem bemerkenswerten,<br />
unbedingt lesenswerten<br />
Essay Medium und Revolution<br />
(Berlin 2011) gegen die Tendenz<br />
einer totalen Mediatisierung eine<br />
kritische Ontologie der Produktion.<br />
Er unterscheidet dabei «ein<br />
echtes Hervorbringen» und «allseitiges<br />
Vermitteln» (S. 20), eine<br />
«eigentliche» und eine sich<br />
zunehmend ins Immaterielle,<br />
schließlich «in die reine Vermittlung,<br />
das Medium als solches»<br />
(S. 24) verlierende uneigentliche<br />
Produktion, «totale Vermittlung»<br />
und den «lebendigen<br />
Bezug zum unmittelbar Gegebe-<br />
sieren, um in der Sprache Guattaris zu<br />
bleiben; das ist ganz erbärmlich.<br />
Die allgemeine Ästhetisierung, die<br />
Guattari im Blick hat, kann und muss<br />
aber auch noch anders gedeutet werden.<br />
Sie ist auch — und hier liegt vor<br />
allem der medienphilosophische Einsatz<br />
der Frage, die ich für den Anfang in<br />
aller Grobheit skizziere und auf die wir<br />
sicherlich noch zurückkommen werden<br />
— als eine der ersten Beschreibungen<br />
eines fundamentalen Umbruchs in der<br />
Geschichte von Technik und Sensation<br />
zu werten, der in der zweiten Hälfte des<br />
20. Jahrhunderts, insbesondere aber<br />
seit den 1990er Jahren und bis heute<br />
geschieht: Unter neueren medientechnologischen<br />
Bedingungen, wie sie von<br />
affektiven Medien pointiert werden,<br />
können wir eine ursprüngliche ästhetische<br />
Zurichtung der Gegenwart beobachten,<br />
will sagen eine fundamentale<br />
Priorisierung des Wahrnehmungsproblems<br />
und schliesslich eine Primarisierung<br />
der vor aller Wahrnehmung und<br />
unterhalb aller Wahrnehmbarkeit liegenden<br />
Sensation. Luciana Parisi oder<br />
Mark Hansen beschäftigen sich — in<br />
gewisser Weise in der Nachfolge Guattaris<br />
und in einer starken Zuwendung<br />
zu Whitehead — genau damit. Im<br />
Grunde ist der ganze «affective turn» 5 ,<br />
wie ihn Patricia Clough beschrieben<br />
hat, genau von dieser Zurichtung getragen.<br />
Die ästhetische Frage erweist sich<br />
hier mehr und mehr als eine technoökologische<br />
Frage vernetzter und sensorischer<br />
Umgebungen, in denen Empfindung<br />
vor oder unterhalb von Subjektivität<br />
im überlieferten Sinn, der<br />
Subjektivität des Subjekts, geschieht.<br />
Parisi spricht in diesem Zusammenhang<br />
von «technoecologies of sensation»,<br />
von «Technoökologien der Empfindung».<br />
6 Wir erleben eine technolo-<br />
nen, zur Unmittelbarkeit» (S. 43)<br />
etc. — diese Differenzen, die<br />
Trawnys kritischen Diskurs organisieren,<br />
stellen ein Erbe dar der<br />
überlieferten antitechnischen<br />
Figur der Kritik, die stets gegen<br />
«das Medium» das Unvermittelte<br />
und Unmittelbare anruft. Darin<br />
sind sie vielleicht ein Symptom<br />
für eine gewisse Grenze der Produktionsontologie,<br />
der sie entstammen,<br />
was die Lesbarkeit der<br />
Gegenwart angeht: Sie sind<br />
womöglich Unterscheidungen<br />
einer vorgängigen geschichtlichen<br />
Formation.<br />
4 – Vgl. etwa Gilbert Simondon,<br />
«Ergänzende Bemerkung zu den<br />
Konsequenzen des Individuationsbegriffs»,<br />
in: Ilka Becker,<br />
Michael Cuntz (Hg.), Unmenge<br />
— wie verteilt sich Handlungsmacht,<br />
München 2008, S. 45–74.<br />
5 – Partricia T. Clough, «The Affective<br />
Turn: Political Economy, Biomedia,<br />
and Bodies», in: Melissa<br />
Gregg, Gregory J. Seigworth<br />
(Hg.), The Affect Theory Reader,<br />
Durham, London 2010,<br />
S. 206–225.<br />
6 – Vgl. Luciana Parisi, «Technoecologies<br />
of sensation», in: Bernd<br />
Herzogenrath (Hg.), Deleuze/<br />
Guattari & Ecology, Basingstoke,<br />
New York 2009, S. 182–199.<br />
gische Umwendung, in deren Zug das<br />
Affektive und damit auch die Frage<br />
nach dem Zusammenhang von Affektivität,<br />
Medialität, Technizität und deren<br />
Rolle für die psychischen und kollektiven<br />
Individuationsprozesse zunehmend<br />
in den Vordergrund gerät. Und<br />
nicht zufällig greifen genau hier die<br />
zentralen ästhetischen Politiken bzw.<br />
die Psychopolitiken des zeitgenössischen<br />
kybernetischen High-Tech-Kapitalismus<br />
an: Nach Bernard Stiegler<br />
geschieht heute auf medientechnologischer<br />
Basis eine Grammatisierung,<br />
Industrialisierung und Proletarisierung<br />
von Sensibilität, die es aufzuhalten und<br />
zu bekämpfen gilt, ja befinden wir uns<br />
in einem regelrechten ästhetisch-industriellen<br />
Krieg. Ich werde das später<br />
noch einmal aufnehmen.<br />
All das sind natürlich nicht mehr<br />
als erste Andeutungen, wie diese grossartige<br />
Intuition des neuen ästhetischen<br />
Paradigmas diskutiert und entfaltet<br />
werden könnte und in welchem<br />
Masse sie uns voranzubringen mag<br />
beim Unternehmen einer Auslegung<br />
der Gegenwart. Die Arbeit muss entlang<br />
des Textes von Guattari im Detail<br />
geschehen. Aber mir geht es vorerst<br />
nur darum, den zeitgenössischen Ort<br />
der ästhetischen Frage ein wenig<br />
genauer einzukreisen. Diese Frage<br />
benimmt mir fast den Atem, so zentral,<br />
so weitreichend, so aufregend und<br />
so bedeutend ist sie.