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Heft - ith

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Michaela<br />

Ott<br />

Dieter<br />

Mersch<br />

Mirjam<br />

Schaub<br />

67<br />

Kunst<br />

und<br />

Episteme<br />

dern rein mit Ergebnissen von Versuchsanordnungen<br />

zu tun haben, die<br />

durch gewagte Theorien und Rechenprogramme<br />

zu erschliessen sind. Die<br />

erkenntnistheoretische Position, auf<br />

der Basis früherer Beobachtungen<br />

weitere Wirklichkeiten annehmen zu<br />

müssen, die nicht verifiziert werden<br />

können, macht einen Begriff des Wirklichen<br />

erforderlich, wie er von den<br />

modernen Künsten implizit vorausgesetzt<br />

und von gewissen modernen Philosophien<br />

explizit gemacht worden ist.<br />

Für dieses zu fordernde, über den<br />

Bereich des Erfassbaren hinausgehende<br />

Wirkliche wird von Seiten der Philosophie<br />

der Name des Virtuellen<br />

angeboten, wie ihn Leibniz eingeführt<br />

hat: Er gibt mit ihm seine Überzeu-<br />

2. Die hier vertretene These lautet jedoch, dass die<br />

künstlerische Praxis eine Erkenntnispraxis sui generis ist,<br />

die nicht auf wissenschaftlichem Wege, sondern allein mit<br />

künstlerischen Mitteln zu erreichen sei. Sie geht zudem<br />

weiter als die wissenschaftstheoretische oder wissenschaftshistorische<br />

Vergleichung beider, die ihre klassische<br />

Differenz einzuebnen trachten, um etwas Wissenschaftliches<br />

an der Kunst und etwas Künstlerisches an den Wissenschaften<br />

aufzuweisen — vielmehr wäre gerade an der<br />

Unüberbrückbarkeit ihrer Unterscheidung festzuhalten,<br />

allerdings nur, um ihnen umso eigenständigere und unverzichtbarere<br />

Räume zu sichern. Für die Künste können diese<br />

mit Blick auf ihre «Arbeit im Sinnlichen» und «am<br />

Material» bzw. «im Medialen» reklamiert werden: Künstler<br />

adressieren Singularitäten, sie hantieren gleichsam «im<br />

Wahrnehmbaren» und wenden Materialitäten in Materialitäten<br />

gegen Materialitäten oder Medien mittels Medien<br />

gegen Medien, während die Wissenschaften auf Generalisierungen<br />

zielen, im Begri±ichen operieren und sich für<br />

ich Kunstwerke selbst als tentative<br />

Problemlösungen auf. Ich möchte<br />

daher eine philosophisch inspirierte<br />

«Kunstraumforschung» 22 anregen,<br />

mit dem Ziel, die Kunst als verkannte<br />

Heuristik der Philosophie stark zu<br />

machen.<br />

Als Probiermittel hierfür dienen<br />

mir die sog. travelling concepts, wandernde<br />

Begriffe und Theoriefragmente,<br />

die — obgleich nie für den Kunstraum<br />

gedacht — in diesen einwandern<br />

und dort ein überraschendes «Nachleben»<br />

führen. Das führt nicht nur zu<br />

einem Nachdenken über gelingende<br />

Interdisziplinarität, sondern auch zu<br />

einer Problematisierung des herrschenden<br />

Wissenschaftsideals. Denn<br />

mit der notwendigerweise einseitigen,<br />

gung wieder, dass das unendlich Kleine,<br />

die Monade, in sich das unendliche<br />

Universum konzentrieren und, aus je<br />

spezifischem Blickwinkel, in sich entfalten<br />

kann: Diese «Mehr-als-Unendlichkeit<br />

(soll) in dem ganz und gar einzelnen<br />

Mehr-als-unendlich-Kleinen<br />

konzentriert sein, indem sie virtuell<br />

die ganze Folge des Universums in<br />

jeden wirklichen Punkt legt, der eine<br />

Monade oder substantielle Einheit<br />

ausmacht». 4<br />

Deleuze 5 übersetzt dieses metaphysische<br />

Wuchern von Unendlichkeiten<br />

in den Gedanken der unendlichen<br />

Differentialität von Zeit, die mit Bergson<br />

6 und Merleau-Ponty 7 als primäre<br />

(Selbst-)Setzung, (Selbst-)A∞zierung<br />

und -wiederholung und damit als<br />

je spezifischen Versinnlichung geht<br />

eine epistemische Zuspitzung und<br />

Radikalisierung der Konzepte einher,<br />

die so interessant wie erklärungsbedürftig<br />

ist. Die Neuheit dieses Ansatzes<br />

verdankt sich einer Blick- wie Praxisumkehr<br />

— weg vom bekannten<br />

Neutralitätsgebot des wissenschaftlichen<br />

Einsatzes hin zu einer Logik der<br />

Präferenz. Nicht die — nolens volens<br />

gewählte, immer defizitär bleibende —<br />

Versinnlichung einer Theorie soll als<br />

unzulänglich kritisiert, sondern im<br />

Gegenteil die Theorie durch ihre Versinnlichung<br />

gerade angesichts der ihr<br />

eigenen Züge problematisch werden.<br />

Nicht um eine Metatheorie des Kunstgeschehens,<br />

sondern um philosophische<br />

Grundlagenforschung entlang<br />

heterogenetisches Prinzip verstanden<br />

wird, das in je anderen Zeitigungen<br />

und Materiesynthesen unbegrenzt<br />

vielfältige Wirklichkeiten generiert.<br />

Als differentielle und sich unablässig<br />

differenzierende Prozessualität<br />

bezeichnet das Virtuelle gleichsam ein<br />

Wirklichkeitsreservoir, das sich fortge-<br />

4 – Gottfried Wilhelm Leibniz, «Unendlichkeit<br />

und Fortschritt», in: ders., Kleine Schriften<br />

zur Metaphysik. Philosophische Schriften,<br />

Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 365–386, hier<br />

S. 381.<br />

5 – Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung,<br />

München 1992.<br />

6 – Henri Bergson, Materie und Gedächtnis.<br />

Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen<br />

Körper und Geist, Hamburg 1991.<br />

7 – Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie<br />

der Wahrnehmung, Berlin 1966.<br />

Medialitäten allenfalls als Anwendungsmodi interessieren.<br />

Sich im Sinnlichen bewegen oder mit Singularitäten umgehen<br />

bedeutet vor allem, sich im Exemplarischen aufhalten<br />

und Farben oder Töne aufeinander zu beziehen und Materialien<br />

auf eine Weise assoziativ miteinander zu verknüpfen,<br />

dass ihre Gegensätzlichkeiten hervorzutreten vermögen<br />

oder sich «zwischen» ihnen «Energien» (Beuys) ereignen.<br />

Ihre Praxis gehorcht damit einer anderen Ordnung als<br />

der diskursiven, die es stets mit Allgemeinheiten und diskreten<br />

Einheiten zu tun hat. Man kann diese andere Ordnung<br />

als eine Ordnung des «Zeigens» ausbuchstabieren,<br />

wie sie gleichermassen Ludwig Wittgenstein und Nelson<br />

Goodman vorgeschlagen haben. Sie steht quer zur Ordnung<br />

des Sagens, die denotativ statt exemplifikatorisch verfährt.<br />

Haben wir es in diesem Sinne in den Wissenschaften<br />

durchweg mit Zahlen, Diagrammen, Relationen, Schriften<br />

oder Formeln zu tun, die nach Jacques Derrida, trotz aller<br />

«Ikonisierung» zum Zwecke ihrer Lesbarkeit, sich des<br />

Registers der Zeichen und damit der Iterabilität bedienen<br />

der Konfliktlinien von Kunst / Wissenschaft<br />

geht es, d. h. um Theoriebewegungen,<br />

die ob der riskanten Entschiedenheit<br />

von Kunst nicht völlig zu kontrollieren<br />

sind.<br />

Philosophische Forschung in diesem<br />

Sinne zu betreiben, bedeutet,<br />

Kunst als zeitabhängige, epistemische<br />

Praxis eigenen Rechts zu entdecken.<br />

Gegen den Vorwurf der Beliebigkeit<br />

gilt es, die zu Unrecht übersehene Entschiedenheit<br />

der künstlerischen Ideenumsetzung<br />

stark zu machen. Ich setze<br />

auf ihr Überraschungspotential.<br />

Kunstwerke werden so lesbar als Trajekte<br />

für Ideen, die unzeitgemäss sein<br />

können und für die sich doch überraschend<br />

neue und andere Gebrauchsformen<br />

auftun. Zudem wirkt die mit

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