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Anne<br />

Sauvagnargues<br />

35<br />

Kunst als<br />

Einfangen<br />

von Kräften<br />

Die Kunst ist in der Philosophie von Gilles<br />

Deleuze eine treibende Kraft: Seit dem<br />

Erscheinen eines ersten Aufsatzes über<br />

Marcel Proust im Jahr 1964 beschäftigt<br />

sich Deleuze mit der Literatur und interessiert<br />

sich später — einem Werdegang<br />

folgend, der von der Sprache zur Materie<br />

der Perzeption verläuft — auch für die<br />

nicht-diskursiven Künste, die Malerei und<br />

das Kino. Die Definition der Kunst als<br />

Symptomatologie von Affekten, als Einfangen<br />

von Kräften und schliesslich als<br />

Bild korrespondiert mit dieser Bewegung.<br />

Das Einfangen von Kräften, das zunächst<br />

im Hinblick auf die Literatur entwickelt<br />

und später mit Francis Bacon — Logik der<br />

Sensation auf die Analyse der Malerei<br />

übertragen wurde, legt eine Gemeinschaft<br />

der Künste frei, die die Literatur und die<br />

nicht-diskursiven Künste miteinander<br />

verbindet. Es lässt sogar darauf schliessen,<br />

dass der künstlerische Effekt, mitsamt der<br />

Literatur, nicht auf seine sprachliche<br />

Dimension reduziert werden kann, sondern<br />

eine Semiotik des Effekts fordert, die<br />

sich nicht auf das Diskursive zurückführen<br />

lässt: eine wahre Logik der Sensation, eine<br />

Semiotik der Affekte. Diese Ausweitung<br />

der Philosophie der Kunst wird in den<br />

achtziger Jahren mit Francis Bacon als<br />

Einfangen von Kräften seine Formulierung<br />

finden und im Bewegungs-Bild sowie<br />

im Zeit-Bild 1 , den beiden dem Kino gewidmeten Büchern,<br />

als Bild bezeichnet werden. Nachdem sich Deleuze auf die<br />

Erfahrung der Kunst gestützt hat, um mit der Philosophie<br />

sein «Bild des Denkens» 2 umzugestalten, ebnet er jetzt der<br />

Kunst einen neuen Weg, der auf eine vollständige Neugestaltung<br />

der Theorien von Bild und Zeichen hinausläuft. In<br />

Anknüpfung an Henri Bergson und Materie und Gedächtnis<br />

begreift Deleuze das Bild nicht als Kopie, als geistige<br />

Doublette, sondern als einen Modus der Materie, einen<br />

Komplex von realen Kräften in Bewegung. Der Effekt der<br />

Kunst muss auf dieser ausschliesslich positiven Ebene verstanden<br />

werden: «Jedenfalls repräsentiert ein Bild keine<br />

vorgebliche Realität, es ist für sich selbst seine ganze Realität.»<br />

3 Anne Sauvagnargues<br />

Die Kunst — alles andere als eine kulturelle Fiktion<br />

oder ein anthropologisches Kriterium — erhält bei Deleuze<br />

die Konsistenz und Unschuld eines Subjektivierungseffekts,<br />

der die Affekte in der Materie erzittern lässt.<br />

1 – Gilles Deleuze, Francis Bacon. Die<br />

Logik der Sensation, München 1994,<br />

Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild.<br />

Kino 1, Frankfurt a. M. 1997a, Gilles<br />

Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2,<br />

Frankfurt a. M. 1997b.<br />

2 – Gilles Deleuze, Proust und die<br />

Zeichen, Berlin 1993.<br />

3 – G. Deleuze, «Portrait des Philosophen<br />

als Zuschauer», in: Schizophrenie<br />

und Gesellschaft. Texte und<br />

Gespräche von 1975 bis 1995, hrsg.<br />

v. David Lapoujade, Frankfurt a. M.<br />

2005, S. 202–209, hier S. 204.<br />

Kunst als<br />

Einfangen von<br />

Kräften<br />

Das Einfangen<br />

von Kräften<br />

Das Einfangen von Kräften, das Deleuze in Francis Bacon<br />

als Definition der Künste systematisiert, wird zunächst —<br />

von Proust und die Zeichen 1964 bis hin zu Differenz und<br />

Wiederholung 1968 — im Hinblick auf den literarischen<br />

Effekt entwickelt. Es bietet eine Erklärung dafür an, wie —<br />

Deleuze zufolge — die Kunst die Philosophie verändert.<br />

Das Denken taucht unter der eruptiven Gewalt des Zeichens<br />

auf. Dieses Einbrechen begreift Deleuze mit Friedrich<br />

Nietzsche und Gilbert Simondon als eine Physik der<br />

Intensität, als eine Semiotik der Kraft, was es, wie dies<br />

Nietzsche wollte, ermöglicht, den Künstler zum Arzt der<br />

Zivilisation zu machen. Die Kunst übernimmt dabei als<br />

Symptomatologie eine klinische und kritische Funktion.<br />

Der Künstler entwirft die Karte, mittels derer die Kräfteverhältnisse,<br />

die eine Gesellschaft durchziehen, erkannt<br />

werden können und unterzieht diese einer Bewertung; das<br />

heisst, er bestimmt die Verfasstheiten jener Vermögen, auf<br />

die die Kräfte antworten. Seine Theorie der Individuation<br />

als intensive Modulierung ermöglicht es Simondon, den<br />

künstlerischen Effekt auf der Ebene von Kräften zu denken,<br />

und nicht mehr auf der Ebene von diskursiven Bedeutungen<br />

allein; die abstrakte Gegenüberstellung von Materien<br />

und Formen wird so ersetzt durch eine intensive Beziehung<br />

von Materialien und Kräften.<br />

Von der signifikanten Form zur realen Kraft<br />

Die Kunst ist real; sie zeitigt reale Effekte im Bereich der<br />

Kräfte und nicht in dem der Formen. Daraus folgt eine sehr<br />

originelle Verlagerung des Bruchs zwischen dem Imaginärem<br />

und dem Realem: das Imaginäre wird nicht länger als<br />

eine mentale Fiktion verstanden und die Kunst nicht mehr<br />

als ein Zeitvertreib der Kultur. Während die im Hinblick

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