39 – Zu der schwindelerregendenMehrdeutigkeit des stylums vgl. Jacques Derrida, Éperons: Les styles de Nietzsche, Paris 1978 (dt. «Sporen. Die Stile Nietzsches», in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a. M. 1986, S. 131– 168). 40 – Maurice Merleau- Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 247 (dt. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966/1974, S. 251). 41 – Ebd., S. 240 (dt. S. 244). 42 – Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927, §33, S. 154. 43 – Michel Foucault, «Der maskierte Philosoph», in: ders.: Von der Freundschaft, S. 9-24, Berlin 1984, S. 14. Die bildliche distinctio kann daher keine dem Ort und der Zeit entbundene sein; ihre Bedeutung gewinnt sie vielmehr aus ihrer irreduziblen Okkasionalität. Von jenem punctum saliens, vom ‹springenden Punkt›, an dem der Blick tropisch umschlägt, jenseits einer Blickbeziehung zu sprechen, verliert jeden Sinn. Distinktion ist dann niemals eine nur immanente, schon etymologisch verweist sie auf den Einschnitt, den sie im Wahrnehmungsverlauf vornimmt, auf ein dia-stizein, ein Ein- und Durchstechen der Bildsingularität im jeweiligen Bildbewusstsein. Bilder unterscheiden sich also stets, sie unterscheiden sich jedoch immer auch für jemanden. Der genuine Stil des Bildes, sein jeweiliger Ausdrucksduktus und seine charakteristischen Züge bleiben auf keine characteristica imaginalis beschränkt, zu physiognomischen Zügen werden sie erst, weil sie einen Blick auf sich ziehen und ihnen m<strong>ith</strong>in eine eigentümliche Zugkraft innewohnt, die einen Wahrnehmenden an das Objekt bindet. Von Bildstilen zu sprechen müsste dann auch immer heissen, vom ikonischen stylum zu reden, von jenem Stilett, das ins Auge sticht und die Aufmerksamkeit anstachelt. 39 Nicht nur die im Tiefdruck hergestellten Werke: alle Bilder sind insofern Stiche, als sie dazu anspornen, dass der Betrachter ihnen Zeit schenkt. Die bildliche Distinktion verweist schliesslich auch noch auf eine dritte und letzte Dimension: Stizein leitet sich von der Wurzel *stig bzw. ‹stechen› ab und findet sich noch im Stigma wieder. Es ist jenes Stigma, jene visuelle Typik, die sich in die Bildkörper eingeschrieben hat, die in ihrem Exponiertsein die Bilder im Barthes’schen Sinne zum punctum werden lässt. Wenn Bilder besonders hervorstechen, können sie — rein rechnerisch — ‹punkten›. Einige Bilder brennen sich ins Gedächtnis und hallen noch weit später nach, als Halluzinationen, traumatische Bilder oder Irrlichter. Die Affektion der Materie, die Einkerbungen, Einschreibungen und Markierungen im Bildträger, die einiges hervortreten lassen, weil sie anderes exkludieren, wirkt in der Affekti- on des Betrachters nach, der durch das Gesehene ebenso stigmatisiert werden kann wie das Sichtbare noch Spuren der Fremdeinwirkung aufweist. Einige Bilder, die man hier vielleicht vorläufig als extreme Bilder charakterisieren könnte, sind dann buchstäblich ‹nicht anzusehen› — der Blick hält ihnen nicht stand, ohne umzukippen. Extreme Bilder verschlagen dann gleichsam den Blick. «Diese Bilder sind unerträglich» — ein solches Urteil hat mit einem ästhetischen nur noch wenig gemein und auch dessen Verallgemeinerbarkeit bleibt ungewiss. Dennoch lassen nicht wenige Bilder die kontemplative Distanz kollabieren und überwältigen den Betrachter. Auch ihnen muss die bildkritische Bestimmungsarbeit gelten. Geradezu exemplarisch können sie den Sachverhalt vor Augen führen, dass Bildlichkeit immer nur im Zwischenraum zwischen Sichtbarkeitsstiftung und Blickschenkung besteht, kurzum: dass Bildforschung Korrelationsforschung ist. Bildqualitäten liegen jenseits der «Alternative des Für-Sich und des An-Sich», 40 eines vor der Welt stehenden, unbeteiligten kosmotheoros und einer «als etwas fertig Gegebenes» aufgefassten «Welt an sich»; 41 sie sind nur im Vollzug einsehbar. Eine Bildkritik wird dann zur Bilddiakritik, wenn sie nicht nur durch die medialen Konstitutionsmomente des Bildlichen hindurchgeht, sondern sämtliche bildpraktischen Vollzüge miteinbezieht. Die Möglichkeit eines Bildurteils ist damit noch nicht kategorial verschlossen, jedes axiologische Urteil lässt sich dann gleichwohl nur auf dem Boden eines relationalen Urteilskomplexes aufstellen. Um Heideggers Beispiel zu bemühen: Das Urteil ‹Der Hammer ist schwer› bedeutet im besorgenden Umgang kein Urteil darüber, dass dem Hammer die Eigenschaft der physischen Schwere zukommt, vielmehr liegt darunter die Aussage ‹Der Hammer ist zu schwer›, eine Aussage also, die ob ihrer Okkasionalität in die formale Logik gerade keinen Eingang finden kann. 42 Eine bildkritische Tätigkeit, die damit beginnt, relationalen Gefügen wie rechts-links / oben-unten einen konstitutiven Sinn zuzubilligen, die Emergenzprozesse in der Erfahrung beschreibt und das Apparitive an die apparativen Bedingungen zurückbindet, leistet indirekt dann auch einen Beitrag zu der genetischen Rückfrage über die Voraussetzung derjenigen Urteile, die als Allsätze das Feld des Tatsächlichen auf das allzeit Gültige verpflichtet und damit das Denken von seiner zeitlichen Bedingtheit enthoben haben. Man mag sich an das Verständnis Michel Foucaults von Kritik erinnern: «Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versuchte zu richten, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen, sie würde sie herbeirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln […]. Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich». 43 102
Philipp Stoellger 103 Sichtbarkeit der Theorie «Über Malerei zu reden ist ja nicht nur sehr schwierig, sondern vielleicht sogar sinnlos, weil man immer nur das in Worte fassen kann, was in Worte zu fassen geht, was mit der Sprache möglich ist. Und damit hat ja Malerei eigentlich nichts zu tun. Da gehört vielleicht auch diese stereotype Frage dazu: Was haben sie sich dabei gedacht? Man kann sich nichts dabei denken, denn Malen ist ja eine andere Form des Denkens. Im Übrigen interessiert mich, und das betrifft das Malen, das Was und Wie, überhaupt nur das, was ich nicht kapiere. Und so geht mir das auch mit jedem Bild. Ich finde die Bilder schlecht, die ich begreifen kann.» Gerhard Richter 1 Philipp Stoellger Sichtbarkeit der Theorie Zur visuellen Kritik als « Hermeneutik 0der Differenz» 1 – Archivmaterial SWF FILM 1965 (www.hoehnepresse-media.de 9.2.2012, 10.00). Vgl. http://www. daserste.de/ttt/beitrag_ dyn~uid,bvi54ht 0hvhr9qgc~cm.asp (9.2.2012, 10.00).
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