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Heft - ith

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Pascale<br />

Criton<br />

121<br />

In Richtung<br />

eines Denkens<br />

von Mannig-<br />

faltig keiten<br />

wird, gibt es mannigfaltige Zugänge; sie fordern keine Einheit,<br />

um ein System auszubilden. Die Mannigfaltigkeiten<br />

— von denen jeder Punkt mit allen anderen kommunizieren<br />

kann — sind interagierende Ensembles von Variablen.<br />

Deleuze setzt diese in Beziehung und unterscheidet gleichzeitig<br />

unter Bezugnahme auf Riemann zwischen topologischen<br />

und distributiven Mannigfaltigkeiten sowie in Anlehnung<br />

an Bergson zwischen intensiven und qualitativen<br />

Mannigfaltigkeiten. Dieses «metastabile» Prinzip erinnert<br />

im Übrigen in gewisser Weise an die Komposition von<br />

Bezügen in der Musik und verbindet sich mit der Notwendigkeit,<br />

die Bedingungen der Gleichzeitigkeit und Abfolge<br />

von Elementen zu denken, die die Beziehungen regeln und<br />

den Ausdruck fundieren. Es ist also, wie uns scheint, der<br />

Schauplatz eines räumlichen und zeitlichen Denkens, auf<br />

dem die Musik herbeizitiert wird, und zwar auf der Ebene<br />

ihres operativen und technischen Feldes, in Bezug auf die<br />

nicht vom Expressiven getrennten Funktionen der Temporalisierung,<br />

die Fragen der Verteilung, der Artikulation und<br />

der Variation. Weiter unten wird man sehen, dass sich dieses<br />

Interesse nicht von den durch die Musik und ihre mögliche<br />

Beziehung zu einem heterogenen «Aussen» übertragenen<br />

A≠ekten absondern lässt.<br />

Wenn die Musik als solche in Deleuzes ersten Arbeiten<br />

nur wenig Erwähnung findet, so liefert die Studie der<br />

ästhetischen Individuationen bei Proust 4 eine minutiöse<br />

Erfassung der räumlichen und zeitlichen «Zusammensetzungen<br />

der Perzeption». Die Zirkulation der kleinen a-signifikanten<br />

Perzeptionen wird in den individuellen und kollektiven<br />

Komponenten der Recherche 5 in<br />

Zusammenhang mit der Figur des Leitmotivs*<br />

6 vergegenwärtigt. In dieser Tendenz<br />

zur Beweglichkeit gehen die seit Di≠erenz<br />

und Wiederholung thematisierten, dynamischen<br />

und räumlich-zeitlichen Bestimmungen<br />

gewissermassen der produktiven<br />

Begegnung mit dem musikalischen Modell<br />

voraus, das Deleuze im Lauf der 1970er<br />

mit Félix Guattari ausarbeiten wird. Man<br />

wird auch feststellen, dass in den «maschinischen»<br />

Distributionen (Schnitt / kontinuierlicher<br />

Strom), die im mit Guattari zu<br />

zweit geschriebenen Anti-Ödipus entwickelt<br />

werden, bereits ein proto-dynamisches<br />

Modell beinhaltet ist. Mit Tausend<br />

Plateaus jedoch beginnt die Bezugnahme<br />

auf die Musik zu wuchern und durchzieht<br />

ein komplexes semiotisches Feld. Die<br />

1970er Jahre werden schliesslich die Entfaltung<br />

jener Begegnung erleben, die die<br />

beiden Philosophen mit dem musikalischen<br />

Modell herbeiführen. Darin wird<br />

ausgiebig auf einen musikalischen Korpus<br />

Bezug genommen, der — neben den Klassikern<br />

von Debussy bis Ravel — zahlreiche<br />

Komponisten der Gegenwart umfasst;<br />

diese reichen, um nur einige wenige zu<br />

nennen von Berg über Bartok, Messiaen,<br />

Boulez und Berio zu Webern, von Xenakis<br />

bis Cage und Steve Reich. Weiter gefasst,<br />

richtet sich die Aufmerksamkeit auf die<br />

Menge aller klanglichen Zeichen sowie auf<br />

ihren Ausdruck in Raum und Zeit. Tausend<br />

Plateaus entwickelt also eine semiotische<br />

Heterogenese, die sich — unter<br />

anderem — auf einen in strategischer<br />

Abgrenzung vom Strukturalismus<br />

bemühten musikalischen<br />

Nomos stützt. Man sieht folglich, wie<br />

das musikalische Modell einer Prüfung<br />

unterzogen wird, die sein technisches<br />

Feld von der Harmonie bis<br />

zur Polyphonie, von den Rhythmen<br />

bis zu den Klängen ebenso betri≠t<br />

wie seine Materialien und Formationen,<br />

die Stimme und die Orchestrierung,<br />

wobei der Einsatz einer Molekularisierung<br />

des Tons und die Variation<br />

auf einem o≠enen operativen<br />

Feld analysiert wird. Die Musik, der<br />

Vektor eines transversalen Variationsprozesses,<br />

wird dazu angespornt,<br />

sich zur Erfahrung eines<br />

Denkens hinzuzufügen, für das die<br />

Philosophie nicht alleinige Spezialistin<br />

sein will. Die Mehrzahl der<br />

Werkzeuge von Deleuze und Guattari<br />

beruhen auf der Entfaltung<br />

eines für Zeichen und methodische<br />

Besonderheiten empfänglichen,<br />

heterogenen Feldes. Welche Rolle<br />

spielt die Musik in der Konzeption<br />

von polyvoken und transversalen<br />

Objekten?<br />

Das musikalische<br />

Gefüge<br />

Was ist die Besonderheit des Individuationsfeldes<br />

der Musik? Das semiotische<br />

musikalische Feld, das in Tausend Plateaus<br />

am Werk ist, lässt sich nicht von<br />

jenem Oszillationsspiel zwischen zwei<br />

Ebenen oder Plänen trennen, die sich —<br />

wie zwei unauflösliche Tendenzen — in<br />

einer Doppelbewegung unaufhörlich und<br />

in unterschiedlichen Graden austauschen:<br />

einerseits ein Organisationsplan, der selber<br />

nicht gegeben sein kann; andererseits<br />

eine Konsistenz- oder Immanenzebene,<br />

die immer mit dem gegeben ist, was sie<br />

ergibt. 7 Der erste, teleologische und strukturelle<br />

Plan ist in der Musik als Schreiben<br />

gegenwärtig. Diese Ebene ist selbst nicht<br />

«hörbar»: So wie Proust oder Balzac den<br />

Entwicklungsplan ihres Werks als Metasprache<br />

darlegen müssen, sehen sich auch<br />

Stockhausen und Xenakis genötigt, die<br />

Struktur ihrer Klangformen in einem<br />

«Ausserhalb der Zeit» 8 zu entwickeln. Der<br />

zweite Plan ist abstrakt und potenziell; er<br />

ist eine Kompositions-Ebene von Vermögen<br />

ohne vorgängige A∞zierung: «Manche<br />

moderne Musiker stellen dem transzendenten<br />

Organisationsplan, der die ganze<br />

klassische Musik des Abendlandes<br />

beherrscht haben soll, eine immanente,<br />

klangliche Ebene gegenüber, die immer<br />

4 – Gilles Deleuze, Proust<br />

und die Zeichen,<br />

Berlin 1993.<br />

5 – [Gemeint ist hier<br />

Prousts Werk Auf der<br />

Suche nach der verlorenen<br />

Zeit; Anm. d.<br />

Übers.] Die intensiven<br />

klanglichen Ausdrücke<br />

werden auch<br />

in dem gemeinsam<br />

mit Guattari verfassten<br />

Buch Kafka. Für<br />

eine kleine Literatur<br />

herausgearbeitet;<br />

vgl. Gilles Deleuze,<br />

Félix Guattari, Kafka.<br />

Für eine kleine Literatur,<br />

Frankfurt a. M.<br />

1976.<br />

6 – Alle mit Asterix<br />

gekennzeichneten<br />

Worte sind Deutsch<br />

im Original.<br />

7 – Deleuze, Guattari<br />

1992, S. 361 f.<br />

8 – Um den Ausdruck<br />

von Iannis Xenakis<br />

aufzugreifen.

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