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Ann<br />
Cotten<br />
Christian<br />
Filips<br />
Florian<br />
Neuner<br />
Monika<br />
Rinck<br />
91<br />
Pathos<br />
mobilisieren<br />
Interessante an meinem Leben gut fassen<br />
kann. Das wäre der Anti-Formalismus, dass<br />
die Texte ihre Komplexität und ihr Niveau<br />
brauchen, um das, was ich erlebe, gut darzustellen.<br />
Ich könnte dieses Argument aber sehr<br />
gut auch umdrehen: Mein Leben muss der<br />
Komplexität dieser Texte genügen.<br />
Christian Filips<br />
Also würde man jetzt nicht von der formalen<br />
Verfasstheit der Texte, sondern eigentlich<br />
von der Dichterexistenz aus argumentieren.<br />
Ann Cotten<br />
Ich finde, dass es sich gut abwechseln<br />
kann.<br />
Christian Filips<br />
Was immer ich mache, ist in irgendeiner<br />
Weise Gedicht, selbst wenn es das nicht ist. Es<br />
steht im Verhältnis dazu.<br />
Florian Neuner<br />
Aber sind das nicht bürgerliche Projektionen,<br />
dass man sich ein aufregendes Leben<br />
erwartet und einen frühen Tod und mindestens<br />
Schwerstalkoholismus?<br />
Christian Filips<br />
Ich habe das Gefühl, dass das Bürgertum<br />
im Moment eher dazu neigt zu glauben, dass<br />
das mit der exaltierten Lebensweise usw.<br />
doch überschätzt wurde und dass man auch<br />
gute Gedichte schreiben kann, wenn man so<br />
lebt wie das Bürgertum selbst. Ist nicht gerade<br />
eher die gängige Meinung, dass man das<br />
doch voneinander trennen müsse, dass auch<br />
die Weise, wie diese Dichterrolle eingesetzt<br />
wird, Inszenierungsformen unterliegt, dass<br />
man auch ganz gerne diesen Inszenierungen<br />
folgt und dass das geradezu die Aufgabe ist,<br />
ein gewisses taktiles Gefühl zu haben, ob man<br />
sich nun als weiche, einfühlsame Dame gibt<br />
oder als Scharlatan, der die Jahrhunderte<br />
überblickt oder so — als ob das alles nur Zitate<br />
von Dichterrollen sind.<br />
Monika Rinck<br />
Ich glaube, es ist noch einmal etwas anderes,<br />
wenn ich versuche, ein möglichst «komplexes»<br />
Leben zu führen und das möglichst<br />
gut zu beschreiben — dann kann es auch für<br />
andere befreiend sein. Und das heisst ja auch<br />
nicht, dass ich sozusagen meine Abgründe<br />
nach aussen auskippe. Ich stelle mir vor, es<br />
braucht ein unglaubliches Management auch<br />
dazu.<br />
Ann Cotten<br />
Literatur sucht immer wieder nach Möglichkeiten,<br />
andere Sprechformen zu entwickeln<br />
als die des Feuilletons. Das Feuilleton<br />
versucht doch immer, über andere Lebensformen<br />
zu berichten und ist aber dazu sprachlich<br />
oft nicht im Stande. Da gibt es viele Artikel, die<br />
versuchen jetzt eine bestimmte Lebensform zu beschreiben<br />
für alle, damit man Einsicht bekommt in diese Art zu leben,<br />
und scheitern daran, weil sie diese Artikelform haben und<br />
alles idyllisiert wird. D. h.: Die Literatur kultiviert Möglichkeiten,<br />
über etwas zu sprechen, ohne es zu verharmlosen<br />
oder an dieser Grenze zu wandeln, einerseits schreckliche<br />
Einsichten zu vermitteln und andererseits den Schrecken in<br />
der Idylle aufzubrechen, gleichzeitig Kritik zu machen und<br />
gleichzeitig Vermittlung.<br />
Florian Neuner<br />
Das klingt so, als würde man dann bei so etwas wie<br />
Beat-Literatur landen. Da hätte man Protokolle der<br />
Unmittelbarkeit.<br />
Ann Cotten<br />
Das wäre zu primitiv!<br />
Christian Filips<br />
Aber wenn man jetzt mal wirklich eine Dialektik<br />
ansetzt, die alles umfasst: Wenn keine Existenzform bereits<br />
feststeht, das Dichterbild nicht bereits festgelegt ist, wenn<br />
keine formalen Kriterien da sind und wenn man aber trotzdem<br />
dieses Pathos, dass das etwas mit Wahrheit oder realisierter<br />
Freiheit zu tun habe, nicht aufgeben will, dann<br />
kann ich doch nicht anders als so: wenn ich mich in dem<br />
Verdacht wähne, jetzt plötzlich so etwas wie authentische<br />
Beatnik-Literatur zu machen, das wieder mit einer formalen<br />
Geste aufheben — und wieder zurück! Hin! Zurück!<br />
Ann Cotten<br />
Wir haben vorhin Pathos gesagt. Vielleicht wäre eine<br />
alternative Formulierung, die Produktion oder die Reproduktion<br />
von Schönheit als Kraft zu verwenden im Sinne<br />
von Majakowski oder so, dass die Dichtung Schönheiten<br />
verständlich macht, zum Teil aber auch verkäuflich macht,<br />
sich aneignet und wieder verkauft. Gerhard Falkner hat so<br />
eine Formulierung gebraucht: Etwas, was sowieso allen<br />
gehört, soll er jetzt verkaufen, weil sie irrig meinen, es nicht<br />
schon zu besitzen. Also, so eine Funktion kommt mir<br />
eigentlich recht schlüssig vor — auch ein bisschen idiotisch<br />
natürlich, aber scheinbar notwendig.<br />
Florian Neuner<br />
Ihr wart jetzt sehr schnell bei den Lebensformen, aber<br />
noch mal zurück zu formalen Kriterien: Wenn man jetzt so<br />
ein Jahrbuch der Lyrik 3 hier liegen hätte, für das sich die<br />
deutschsprachigen Lyriker immer so fleissig mit Texteinsendungen<br />
bewerben — würdet ihr dann sagen: 80 % der<br />
Texte sind sowieso keine Lyrik?<br />
Ann Cotten<br />
Das ist alles Lyrik, alles!<br />
Florian Neuner<br />
Es geht aber doch auch darum zu wissen, wovon man<br />
spricht. Deshalb hat es wahrscheinlich keinen Sinn, alles<br />
als Lyrik zu bezeichnen.<br />
3 – Seit 1979 von Christoph<br />
Buchwald und einem<br />
jährlich wechselnden<br />
M<strong>ith</strong>erausgeber verantwortete<br />
Publikation.