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Heft - ith

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Wissenschaft) zu thematisieren. Die Relevanz der<br />

Kunstwerke besteht doch gerade darin, wie beim<br />

Billard, «über Bande» zu spielen, d. h. sich mit ganz<br />

anderen Phänomen zu beschäftigen als denen des<br />

Eigenen. Kunst ist wie die schwarze Kugel: ein<br />

ra∞niertes, da dezidiert «unpädagogisch» auftretendes<br />

Medium, das sich selbst zwar nicht unsichtbar<br />

macht, das man aber nie auf direktem Wege angehen<br />

sollte, will man das Spiel nicht vorzeitig beenden.<br />

Ansonsten ist das Spektrum der möglichen Evokation<br />

und Provokation durch nichts begrenzt. Ein<br />

wesent liches Distinktionsmerkmal zwischen Kunst<br />

und Nicht-Kunst scheint mir diese Breite sowie der<br />

völlig undogmatische Umgang mit ihr zu sein. Kunst<br />

braucht keine allseits anerkannten Probleme, keine<br />

Desiderate, keine Leerstellen, um sie zu lösen, auszufüllen<br />

oder sonst wie zu glänzen. Kunst braucht<br />

keine leitende Arbeitsfrage, keine Methode, kein<br />

ausgeklügeltes Verfahren, keine Aufsicht über ihre<br />

Versuchsanordnungen, keine Gaußsche Normalverteilung<br />

ihrer Ereignisse. Was mir an der Kunst<br />

gefällt, sind die Abkürzungen und Umwege, die sie<br />

sich herausnimmt, das Mäandern und Zögern, das<br />

Scheitern — und zugleich, das werdet ihr vielleicht<br />

merkwürdig finden — diese Entschiedenheit und das<br />

Überraschungsmoment im Zugriff auf philosophische<br />

(nicht künstlerische) Probleme. Innovation<br />

durch Radikalität, durch Vereinseitigung, durch<br />

Singularisierung haben den unguten Beigeschmack<br />

von politischem Extremismus, ich weiss. Doch Werke<br />

(nicht Menschengruppen oder Meinungen!)<br />

bedürfen dieser Zuspitzung. Ich sehe in dieser «Präferenzlogik»<br />

der künstlerischen Invention ihren<br />

eigentlichen Gewinn, ja epistemischen Vorsprung<br />

vor der Wissenschaft wie vor der Philosophie. Die<br />

Künste operieren schneller, direkter, ungeschützter.<br />

Ihre Angreifbarkeit und Antastbarkeit liebe ich.<br />

Dieter Mersch<br />

Hinsichtlich der Einschätzung, dass die Künste<br />

zuweilen «wendiger» verfahren können als die Philosophie,<br />

bin ich völlig einverstanden. Überhaupt<br />

geht ja mein Plädoyer in die Richtung, weniger den<br />

Zusammenhang von Kunst und Wissen auf die Wissenschaften<br />

zu beziehen und mit ihr zu vergleichen<br />

als vielmehr mit dem philosophischen Denken, das<br />

sich zwar lange Zeit zur Magd einer Fundierung der<br />

Wissenschaften depraviert hat, tatsächlich aber<br />

eher auf die Grundbedingungen des Sagbaren und<br />

Nichtsagbaren und dessen, was Michaela eben das<br />

Virtuelle genannt hat, zielt. Philosophie ist eine Praxis<br />

der Aufschliessung und das hat sie mit den<br />

Künsten gemein, nur unterscheiden sie sich radikal<br />

in ihrer Vorgehensweise, ihrer Art des Fragens, weil<br />

die Künste — und auch damit bin ich völlig einverstanden<br />

— ungeschützter, aber auch scheiternder<br />

einem experimentellen Extremismus zuneigen. Ein<br />

Mittel dazu, darin gebe ich dir recht, Mirjam, ist die<br />

Vereinseitigung, die Singularisierung. Auch gefällt<br />

mir das Bild des «Über-Bande-spielens» im Billard.<br />

Doch bevorzuge ich ein anderes: Des «Von-der-Seite-Blickens»,<br />

gleichsam der Anamorphose. Natürlich<br />

benötigt die Kunst keine Arbeitsfrage, keine<br />

Methodik, keine feste Experimentalanordnung —<br />

aber ihre Eigenart besteht m.E. darin, ins Feld der<br />

Wahrnehmung Risse zu schlagen, z. B. durch mediale<br />

Brüche, aber auch Brüche in den Subjektivierungsweisen,<br />

den öffentlichen Ordnungen, den signifikativen<br />

Strukturen des Sozialen, der Nötigung<br />

sich zu entscheiden oder sich nur noch entscheiden<br />

zu können, dem Zwang, Stellung zu beziehen oder<br />

kommunizieren zu müssen usw. usw. Dazu gehört<br />

auch, wie Michaela es formuliert hat, eine eigene<br />

Weise der Konstitution von Sensibilität, der Intensivierung<br />

von Erfahrung bis an die Grenzen der<br />

Artikulierbarkeit und vieles mehr. Deswegen spreche<br />

ich von «Reflexivität»: eine Reflexionspraxis im<br />

Affektiven oder Perzeptiven, d. h. unter Ausnutzung<br />

von Singularitäten, von Ungerechtigkeiten, von<br />

Unwahrscheinlichkeiten, von Schockmomenten<br />

oder durch die Inszenierung unhaltbarer Frakturen<br />

oder Paradoxien — und nicht von Selbstreflexion im<br />

Sinne von Bewusstwerdung oder Selbsterkenntnis.<br />

Das meine ich letztlich mit «Zerzeigung». Zwar<br />

benutzen wir alle drei verschiedene Sprachen und<br />

haben folglich auch verschiedene Auffassungen:<br />

Aber vermutlich finden wir hier — in dieser Besonderheit<br />

«gegenwendiger» Praktiken — eine gemeinsame<br />

Schnittfläche.<br />

Mirjam Schaub<br />

Das hast Du schön gesagt: In der Kunst erscheint<br />

also im Idealfall beides: die «wunden Punkte» der<br />

Wissenschaft und die «schönen Stellen» der Philosophie.<br />

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