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Heft - ith

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Ann<br />

Cotten<br />

Christian<br />

Filips<br />

Florian<br />

Neuner<br />

Monika<br />

Rinck<br />

89<br />

Pathos<br />

mobilisieren<br />

Florian Neuner<br />

Man sollte die literaturWERKstatt als Institution<br />

nicht zu wichtig nehmen, aber aus<br />

ihrer Perspektive ist es sicher die Strategie, als<br />

Alleinstellungsmerkmal im Marketingsinne<br />

die Lyrik zu besetzen.<br />

Christian Filips<br />

Vielleicht gibt es ja auch eine berechtigte<br />

Angst vor der Dichtung, die durch die Hintertür<br />

diese Aktualität ausmachen könnte. Vielleicht<br />

ist sie wirklich der Form nach weniger<br />

marktförmig als andere Gattungen, weil sie<br />

von Einzelnen bestimmt ist im besten Fall und<br />

sich nicht verkauft. Diese Einzelnen reagieren<br />

unberechenbar.<br />

Ann Cotten<br />

Aber das genügt nicht. Ich meine,<br />

um wirklich gefährlich zu sein, müssten<br />

wir weniger diplomatische Gedichte<br />

schreiben.<br />

Florian Neuner<br />

Vielleicht sollte man das nicht ganz so auf<br />

die Gattung begrenzen. In der Prosa funktionieren<br />

am Markt ja auch nur Kriminalromane<br />

oder der neueste Quatsch von Martin<br />

Walser.<br />

Monika Rinck<br />

Liesl Ujvary sagt, Prosa funktioniert sogar<br />

noch schlechter, weil es die Aufmerksamkeit<br />

nicht gibt.<br />

Florian Neuner<br />

Ann hat zu Beginn dieses Bürgerliche<br />

oder Neo-Bürgerliche ins Spiel gebracht. Dieses<br />

Bedürfnis gibt es sicher auch. Das sind die<br />

Gedichte, die auf der ersten Feuilletonseite<br />

der FAZ abgedruckt werden, die haben so<br />

eine Funktion.<br />

Monika Rinck<br />

Lyrikkalender gehen, glaube ich, gut. Und<br />

dann heisst es: Ja, wenn man zu der Lyrik<br />

jetzt auch beispielsweise Xavier Naidoo zählt,<br />

dann geht sie doch ganz prächtig! Was willst<br />

du — Lyrik, also auf Englisch lyrics … Das<br />

war ja auch immer so eine Frage, ob das<br />

Schreiben von Gedichten per se schon ein<br />

subversiver Akt ist. Was könnte dann ein<br />

gefährlicher oder unterschätzter oder sonstwie<br />

quer zu neoliberalistischem, marktförmigem<br />

common sense stehender Text sein, der<br />

sich gleichzeitig eben aufgrund seiner Marginalität<br />

entfernt von Wirkmächtigkeit? Aber<br />

man muss sich ja nicht orientieren an genau<br />

diesem Skript, das sozusagen festfügt, was<br />

hier Macht und Machtlosigkeit ist.<br />

Ann Cotten<br />

Ich finde interessant, dass ich das Gefühl<br />

habe: Im Moment weiss man weniger als vielleicht<br />

sonst, was Lyrik überhaupt ist. Die<br />

Definition ist sehr, sehr offen geworden. Gleichzeitig ist die<br />

Differenz zwischen dem Diskurs und der Wirklichkeit<br />

irgendwie eingefahren. Es geht ein bisschen im Kreis. Man<br />

sagt nichts Neues. Es erscheint auch aussichtslos, nach<br />

einer wirklich neuen Idee zu suchen, sondern es geht eher<br />

darum, irgendwelche alten Sachen hervorzuholen und<br />

anzuwenden, als wäre man mit dem Diskurs längst viel<br />

weiter als mit der Wirklichkeit, und diese Differenz fängt<br />

an zu schmerzen. In der Lyrik z. B. werden neue Ansätze<br />

gesucht oder neue Redeweisen, die irgendeine Schärfe beitragen<br />

könnten, so wie man Karten mischt. Die Lyrik ist oft<br />

ein vages Protokoll ohne Plan, aus dem man dann irgendwelche<br />

Gerüche oder Witterungen aufnehmen möchte zu<br />

den Logiken und den Strukturen der Welt, weil die geradlinige<br />

Artikel-Prosa nicht mehr greift und der x-te Artikel<br />

zum Börsenkrach nichts weiter beizutragen hat als: Wir<br />

wissen es auch nicht.<br />

Florian Neuner<br />

Aber Literatur ist doch ein langsameres Medium und<br />

kann nicht an diese Front gehen. Es gab vor ein paar Jahren<br />

eine Anthologie zum Thema politische Lyrik, 2 bei der<br />

man sich gefragt hat: Gibt es keine politische Lyrik oder hat<br />

der Herausgeber sie nicht gefunden? Offenbar gab es aber<br />

einen gewissen medialen Zugzwang, dieses Thema zu lancieren.<br />

Dabei hatte man das Material gar nicht.<br />

Ann Cotten<br />

Niemand in Deutschland oder in Europa hat das<br />

Gefühl, dass mit literarischen Mitteln ein grosser Einfluss<br />

auf das Geschehen bewirkt werden kann — im Gegensatz<br />

zu anderen Ländern, wo es politische Lyrik gibt, die vielleicht<br />

auch schlecht oder banal ist, wo man aber merkt,<br />

dass die im Glauben schreiben, dass sie mit Gedichten eine<br />

grosse Wirkung haben.<br />

Monika Rinck<br />

Da geht es um Partizipation, um Teilhabe.<br />

Christian Filips<br />

Ich habe das Gefühl, wir reden die ganze Zeit über In -<br />

stitutionenkritik. Das ist relativ simpel, zu sagen: Es gibt<br />

Leute, die machen Anthologien und die wählen falsch aus<br />

oder sie haben keine Möglichkeit, das Richtige zu finden,<br />

weil es das Richtige nicht gibt.<br />

Ann Cotten<br />

Nein, ich finde schon, dass wir darüber reden, dass niemand<br />

weiss, wie man schreiben müsste, um gri∞g zu sein.<br />

Christian Filips<br />

Aber ich meine, ich oder du, wir tragen es ja aus und<br />

warum sagt man jetzt niemand? Ich müsste mich ja fragen:<br />

Warum mache ich es denn nicht, was hält mich denn<br />

davon ab?<br />

Ann Cotten<br />

Jahrhundertelang wurde Politik über sehr viel Pathos<br />

kommuniziert und jetzt ist Pathos sehr ausser Mode. Es<br />

wirkt einfach nur altmodisch.<br />

2 – Tom Schulz (Hg.), alles außer<br />

Tiernahrung. Neue politische<br />

Gedichte, Berlin 2009.

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