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oder lang überholt sein wird, beziehen sich<br />
auf die semantische Funktion des Worts.<br />
Der Ausweg liegt in seiner Transformation,<br />
will es unter Bedingungen radikaler<br />
Ungewissheit bestehen. Der erste Schritt<br />
auf diesem Weg wäre, es von seinem verinnerlichten<br />
Assoziationskokon zu lösen &<br />
ihm seine unterschwellige Stimme zu nehmen,<br />
die es zum Fremdkörper macht, zum<br />
Virus, wie Burroughs sagt. Dieser Vorgang<br />
verlangt Stille. Das infizierte & infektiöse<br />
Wort kann in der Stille nicht überleben.<br />
Dem Unvorhergesehenen ausgesetzt, wird<br />
es zur Waffe in der Hand des Schreibers,<br />
die er bewusst einsetzt, ohne sich seinen<br />
konnotativen Zwängen auszusetzen, deren<br />
Bann er sich unter konventionellen Bedingungen<br />
nicht entziehen kann. In diesem<br />
Sinn befreit er sich vom Wort, er löscht es<br />
aus. Das Befreiende an diesem Vorgang<br />
besteht darin, Wörter als Teilchen zu<br />
verstehen, die in unendlich vielen, aber<br />
keineswegs beliebigen Verknüpfungen<br />
auftreten können, in denen sich der<br />
Mi krokosmos des Bewusstseins spiegelt.<br />
Selbstredend werden damit die bisher gültigen<br />
literarischen Kategorien wie Roman,<br />
Handlungsverlauf, Fiktion, psychologische<br />
Verwicklungen, Gedichtform oder<br />
Kurzgeschichte eingerissen & in einer<br />
offenen Textualität aufgehen. Eine erweiterte<br />
Räumlichkeit wird entstehen, in der<br />
tatsächliches Geschehen (Erfahrung) den<br />
Anlass liefert, aus dem sich sprachliche<br />
Formatierung entwickelt, die den linearen<br />
Zwang durchbricht. Ein Verfahren oder<br />
Sprachumgang, den Carl Einstein bereits<br />
in seinem 1912 erschienenen «Roman»<br />
Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders<br />
vorgeführt hat, in dem sich dadaeske<br />
Szenen mit abschweifenden Betrachtungen<br />
über Philosophisches & Ästhetisches<br />
mischen.<br />
«Unter der blöden Sonne gingen die Grauen<br />
heim. Die Landschaft war auf ein Brett<br />
gestrichen, die aufgerissenen Augen spür-<br />
ten nicht mehr vor Überreizung, dass es<br />
heller und klarer wurde. Das Licht der<br />
Glühlampen und die sie umhüllende Finsternis<br />
steckte noch in den Sehnerven.<br />
Bebuquin suchte weinend der Sonne in<br />
einen imaginären Bauch zu treten … Die<br />
Hetäre zog allein weiter. Man ließ sie unbenutzt<br />
stehen, sie spannte ihren pfaufarbenen<br />
Schirm auf, sprang wild ein paar Mal<br />
in die Höhe, dann fügte sie sich in die Fläche<br />
einer Litfaß-Säule, sie war nur ein Plakat<br />
gewesen für die neueröffnete Animierkneipe<br />
‹Essay›.» 5<br />
Es sind nicht mehr Ereignisse, die erzählt<br />
oder beschrieben werden, sondern Sprache<br />
selbst wird zum Inhalt des Erzählten.<br />
Das Rüstzeug dazu besteht & gehört im<br />
Bereich der Bilder (wie Malerei & Film)<br />
längst zum künstlerischen Arsenal. Benjamin<br />
hat erkannt, dass es auch in der realen<br />
«Kerkerwelt», zwischen deren verstreuten<br />
Trümmern wir uns bewegen,<br />
möglich ist, «gelassen abenteuerliche Reisen<br />
(zu) unternehmen».<br />
5 – Carl Einstein, Werke,<br />
Band 1, 1908– 1981,<br />
Berlin 1980, S. 21.<br />
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