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Heft - ith

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Modulation von Kräften und Materialien<br />

In der Logik der Sensation gibt es eine Physik des<br />

Werks, die die Physik der Intensität von Gilbert<br />

Simondon 13 aufnimmt. Das Einfangen von Kräften<br />

betrifft die Malerei ebenso wie die Literatur, da es die<br />

Beziehungen von Form und Materie verändert. Dass<br />

das passive Einfangen auf der Ebene von Kräften operiert<br />

und nicht auf der von Formen, impliziert, dass seine<br />

Neutralität eine polemische Dimension aufweist. So<br />

wie die Klinik eine kritische Funktion übernimmt, übt<br />

das Einfangen von Kräften eine Kritik, die radikaler ist<br />

als eine formale Revolution oder eine oberflächliche<br />

Transformation von Formen. Die Veränderung in der<br />

Kunst muss an der Neuheit der wahrnehmbar gemachten<br />

Kräfte gemessen werden: Prousteffekt oder<br />

Ma socheffekt für die Homosexualität oder<br />

den Masochismus, die Ränder der Sexualität;<br />

Artaudeffekt für das Auskundschaften<br />

der Fransen des Psychismus und der Sprache.<br />

Diese neue Konzeption der Beziehungen<br />

von Formen und Kräften ist ein Beleg<br />

für die Bedeutung der Simondon’schen<br />

Analyse der Modulation, die zugleich die<br />

Rolle der Philosophie im Rahmen einer<br />

Analyse der Künste bestimmt. Denn die<br />

Ästhetik verlangt einen neuen Status des<br />

Objekts und erneuert den Status der Subjektivität,<br />

während sie gleichzeitig die<br />

Beziehungen zwischen Form und Materie<br />

verändert. 1978 betont Deleuze: «Allenthalben<br />

wird uns also nahegelegt, nicht<br />

mehr in den Begriffen von Materie und<br />

Form zu denken.» 14 Er greift hier wörtlich<br />

die Kritik des hylemorphischen Schemas<br />

von Gilbert Simondon wieder auf; dieser<br />

zeigte, dass man zur Erklärung der Individuation<br />

die Formung, die die träge Materie<br />

und die aktive Form einander gegenüberstellt,<br />

durch einen Prozess der Modulation<br />

ersetzten müsste, der die Formwerdung als<br />

eine Kopplung von Kräften und Materialien<br />

begreift und nicht so, dass einer passiven<br />

Materie eine abstrakte Form auferlegt<br />

wird. Diese sehr schöne Analyse, die es<br />

Simondon erlaubt, eine Metaphysik und<br />

eine Epistemologie der Intensität zu entwickeln,<br />

wird von Deleuze auf den Bereich der<br />

Ästhetik übertragen. Sie erneuert das Konzept<br />

der Form, die nunmehr als Einfangen<br />

von Kräften, als bewegliche und provisorische<br />

Assemblage von sinnlich gemachten<br />

Kräften verstanden wird.<br />

Die Modulation ermöglicht es zudem,<br />

sich auf der Ebene der Materie selbst einzurichten,<br />

um diese als Trägerin von Singularitäten<br />

und Ausdrucksmerkmalen zu<br />

denken. Von der statischen Gegenüberstellung<br />

von Form und Materie gelangt<br />

man also zu einer energetischen und molekularen<br />

Zone mittlerer Grösse, die eine<br />

«sich bewegende energetische Materialität»<br />

zu denken erlaubt und «die Singularitäten<br />

oder Haecceïtates trägt, die bereits<br />

so etwas wie […] implizite Formen sind<br />

und mit Deformationsprozessen kombiniert werden»<br />

(TP, 564). Das Einfangen von Kräften beruht auf<br />

einer derartigen Modulation der Sensationen in<br />

einem entweder klanglichen, visuellen oder diskursiven<br />

Material. Die Kunst beruht daher nicht darauf,<br />

einer Materie eine Form aufzuzwingen oder einen<br />

subjektiven Effekt auf die Sinnlichkeit auszuüben, da<br />

man «dem Materie-Strom […] nur folgen kann» 15 ;<br />

das heisst, man kann die materiellen Ausdrucksmerkmale<br />

in einem Material nutzen, um eine Physik von<br />

Kräften offen zu legen, die im Realen gegeben sind,<br />

aber bislang nicht wahrgenommen wurden. Das Einfangen<br />

schliesst die Sensation im Material ein und<br />

konsolidiert die Ausdruckskräfte des Materials und<br />

des Affekts im Werk: «Das Paar Materie-Form wird<br />

ersetzt durch Material-Kräfte.» 16<br />

«Es geht nicht mehr darum, der Materie eine Form aufzuzwingen, sondern ein<br />

immer reichhaltigeres und konsistenteres Material zu entwickeln, das immer intensivere<br />

Kräfte einfangen kann.» 17<br />

Die Kunst als Modulation kann als ein Kräftesensor definiert werden: das<br />

ist die Gemeinschaft der Künste, ihr gemeinsames Problem. Von der Gegenüberstellung<br />

von Form und Materie geht man dazu über, ein Ausdrucksmaterial<br />

auf der Ebene des Werks selbst zu konstituieren, was ein Gewinn ist<br />

für eine ästhetische Analyse, die nunmehr auf eine wahrhafte Semiotik des<br />

Materials abzielen kann. Darauf stützt sich auch die Logik der Sensation,<br />

die ihre «Haecceïtates» oder Singularitäten erfasst; sie bedient sich dieser,<br />

um die Beziehung zwischen Werk und Betrachter im Hinblick auf Affekte<br />

oder Sensationen zu bearbeiten, die gleichfalls als Modulation verstanden<br />

werden müssen. Das verändert die Analyse aller Künste einschliesslich der<br />

Literatur. Deleuze ersetzt die abstrakte Gegenüberstellung von Materien<br />

und Formen, der Simondon’schen Definition der Modulation folgend,<br />

indem er ein Material und Kräfte koppelt, die nur durch dieses Material<br />

wahrnehmbar werden. Diese Vorgehensweise verändert die Philosophie der<br />

Kunst grundlegend, insofern sie das Zeichen aus der transzendenten Ebene<br />

des Sinns verbannt, um es auf der materiellen Ebene von Kräften zu<br />

exponieren. Die Analyse der unterschiedlichen Künste untersteht also einer<br />

konkreten Semiotik, welche die sinnlichen, audiblen oder visuellen Bilderarten<br />

erfasst, und, wie wir bezüglich des Kinos noch sehen werden, die Zeichen<br />

klassifiziert und zählt; dabei setzt sie Denkweisen frei, die von diesen<br />

Bildern heraufbeschworen werden. Die Aufgabe der Semiotik wird also präzisiert:<br />

Es geht darum, die Bearbeitung eines Materials und die auf der<br />

Affektebene enthaltenen Potentialitäten zu beschreiben. Für die Musik gilt:<br />

«Was sich herausgebildet hat, ist ein höchst elaboriertes Klangmaterial, nicht mehr<br />

eine rudimentäre Materie, die eine Form erhielt. Und die Koppelung erfolgt zwischen<br />

diesem äusserst elaborierten Klangmaterial und Kräften, die von sich aus<br />

nicht klanglich sind, sondern durch das Material, das sie wahrnehmbar macht,<br />

klanglich oder hörbar werden.» 18<br />

Die Musik offenbart dem Ohr eine Klanglichkeit und entkörpert die Körper,<br />

sodass man von einem Klangkörper dort sprechen kann, wo uns die Malerei<br />

«überall» Augen einsetzt und die pikturale Materie körperlich werden lässt.<br />

Musik und Malerei errichten unterschiedliche Sinnessysteme; ihre Effekte<br />

modulieren nicht dieselben Materien und nicht dieselben Materialien, was die<br />

Analyse für die singulären Künste offen hält; aber das Problem, das ihnen<br />

gemeinsam ist — obschon es von Fall zu Fall behandelt wird — besteht darin,<br />

die Sensation ihrer energetischen oder intensiven Dimension zuzuführen, sie<br />

also dadurch zu steigern, dass sie nicht fühlbare Kräfte einfangen kann. Wenn<br />

sich folglich Malerei und Musik bezüglich ihrer Mittel und ihrer Effekte unterscheiden<br />

— selbst wenn man sagen kann, dass die Musik in gewisser Weise<br />

dort beginnt, wo die Malerei aufhört —, dann haben es beide mit der Sensation<br />

zu tun. Die nicht wahrnehmbare Kraft beschwört die Sensation herauf: sie<br />

ist ihre Bedingung. Die Malerei muss als Sichtbarmachen von unsichtbaren<br />

Kräfte definiert werden; und diese Definition gilt für alle Künste.<br />

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