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Auf welche Weise berufen sich Gilles<br />
Deleuze und Félix Guattari auf den<br />
Bereich der Musik? Welche Bescha≠enheit<br />
hat diese Begegnung mit dem Musikalischen,<br />
die von den beiden Philosophen<br />
herbeigeführt wird? Welche Beziehungen<br />
weben sie zwischen dem Klanglichen und<br />
ihrer Konzeption von Territorium und<br />
Mannigfaltigkeiten? Wir werden uns die<br />
jeweiligen Zugänge der beiden Autoren<br />
ebenso vergegenwärtigen wie die ihrer<br />
Zusammenarbeit; umgekehrt werden wir<br />
einige der Einsätze ihres Denkens auf dem<br />
Gebiet der Musik heute berücksichtigen.<br />
Im Lauf der 70er Jahre, eine durch<br />
den Strukturalismus gekennzeichnete<br />
Epoche, wenden sich Deleuze und Guattari<br />
einer neuen Beziehung zwischen dem<br />
Ausdruck und den Dispositiven des Denkens<br />
zu. Ihr Standpunkt entsteht mit dem<br />
Projekt einer semiotischen Heterogenese,<br />
und zwar unter Rückgri≠ auf Denkwerkzeuge,<br />
die allen Bereichen der Repräsentation<br />
entnommen werden. Was durchzieht<br />
die Ausdrucksfelder von der Politik<br />
bis zur Technik, vom Sozialen bis zum<br />
Psychischen? Linguistik, Ethnologie,<br />
Ethologie, Soziologie, Psychiatrie werden<br />
ebenso vergegenwärtigt wie Mathematik,<br />
Ästhetik, Literatur, Malerei und Kino. In<br />
dieser Perspektive wird der besondere<br />
Bereich der Musik befragt. Was sind ihre<br />
Werkzeuge? Was ist ihr operatives Feld? Lässt sich die<br />
Musik für ein transversales Denken in Anspruch nehmen?<br />
Was ermöglicht sie uns zu denken? Diese oft erneuerten<br />
Fragen verweisen auf ein zugleich technisches und intensives<br />
Feld, das in der Problematisierung des Musikalischen<br />
unter dem Blickwinkel eines Gefüges begri≠en<br />
wird; ein Gefüge, das neue Arten von Realität hervorzubringen<br />
vermag.<br />
Deleuze hat sich in der Philosophie und insbesondere<br />
unter dem Gesichtspunkt der Scha≠ung von Konzepten für<br />
die Musik interessiert. War die Musik nicht Gegenstand<br />
eines spezifischen Werks, so nimmt sie in seinem Denken<br />
dennoch einen privilegierten Platz ein und wird wiederholt<br />
herangezogen. So wie er sich für die Ausarbeitung seines Systems<br />
dem Kino oder der Literatur zuwendet, bietet ihm auch<br />
die Musik die Gelegenheit zu einer Begegnung besonderer<br />
Art, in der die mannigfaltigen Aspekte des Musikalischen<br />
und allgemeiner noch des Klanglichen wachgerufen werden.<br />
Deleuzes Aufmerksamkeit gilt insbesondere der Art und<br />
Weise, wie sich die Repräsentation von Körpern und Ereignissen<br />
konstituiert. Er interessiert sich für die Zusammensetzung<br />
von Verhältnissen, für die Verteilung von Elementen<br />
sowie für jene Artikulationen, die auf die Emergenz, die<br />
Organisation und die Variation von Formen einwirken. Es<br />
gilt anzumerken, dass der Philosoph Deleuze das genauer<br />
untersucht, was seine Bestimmung im zeitlichen Geschehen<br />
findet, was sich in der Bewegung von in Beziehung gesetzten<br />
Kräften zusammensetzt; er nähert sich ihnen dabei nicht<br />
unter dem Gesichtspunkt eines Prinzips, das ihnen äusserlich<br />
wäre und ihre stabile Organisation garantieren würde,<br />
sondern gemäss einem Denken von potenziellen (immanenten)<br />
Verhältnissen. Diese Problematik durchdringt alle von<br />
Deleuze umrissenen Bereiche — die Individuation von Kör-<br />
Pascale Criton<br />
In Richtung eines<br />
Denkens von<br />
Mannigfaltigkeiten:<br />
die Heterogenese<br />
des Klanglichen<br />
pern, Gesellschaften und künstlerischen<br />
Produktionen –, die stets unter<br />
dem Gesichtspunkt ihrer spezifischen<br />
räumlichen und zeitlichen Bestimmungen<br />
erfasst werden.<br />
Seit Di≠erenz und Wiederholung<br />
taucht die Suche nach einem dynamischen<br />
Modell der Formierung von<br />
Körpern — von variablen und nichtsymmetrischen<br />
Krümmungen — auf<br />
der Ebene rhythmischer Ereignisse<br />
auf. 1 Sind die Regeln hierarchisch<br />
oder strukturell vorherbestimmt?<br />
Deleuze bezieht sich auf Simondons<br />
metastabile Systeme, um Nachbarschaftsbeziehungen<br />
zu denken, die<br />
sich aus Koppelungen ergeben, welche<br />
singuläre Individuationen zu<br />
produzieren imstande sind. 2 Was die<br />
Ereignisse bestimmt und verursacht,<br />
ist nicht einem strukturell stabilen<br />
Gesichtspunkt geschuldet, sondern<br />
einer beweglichen und in fortwährender<br />
Transformation begri≠enen<br />
Strukturierung. Von der Biologie bis<br />
zur Ethologie definieren sich die<br />
«assoziierten Milieus» je nach ihren<br />
energetischen Merkmalen durch<br />
Einfangen und molekulare Perzeptionen,<br />
durch perzeptive und aktive<br />
Austauschverhältnisse. 3 Zu diesen<br />
Feldern von Variablen, die Deleuze<br />
als Mannigfaltigkeiten bezeichnen<br />
1 – Gilles Deleuze,<br />
Differenz und Wiederholung,<br />
München<br />
1992.<br />
2 – Gilbert Simondon,<br />
L’individu et sa genèse<br />
physico-biologique,<br />
Paris 1964.<br />
3 – «Simondon stellt<br />
dem Schema von<br />
Form und Materie ein<br />
dynamisches Schema<br />
gegenüber; eine<br />
Materie, die über<br />
Kräfte-Singularitäten<br />
verfügt, oder die<br />
energetischen Bedingungen<br />
eines Systems»;<br />
Gilles Deleuze<br />
und Félix Guattari,<br />
Tausend Plateaus.<br />
Kapitalismus und<br />
Schizophrenie, Berlin<br />
1992, S. 507.<br />
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