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Heft - ith

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ist, was seine Grundlegung in der Zeit,<br />

seine zeitliche Rhythmisierung und<br />

formale Minorisierung und damit seine<br />

gleichzeitige symbolische Entgründung<br />

mitausstellt. Wie Melitopoulos’<br />

Film sich in den miteinander verwobenen<br />

Affekt bildern zu einem Empfindungswissen<br />

des Getrieben- und Ausgesetztseins<br />

verbindet, entgründet der<br />

Film jede symbolische Ordnung in<br />

dem als auftrennbar vorgestellten<br />

Bild- und Tongeflecht.<br />

Die gegenwärtig entschiedenste<br />

Entgründung eines konventionellen<br />

nicht davon, wie Zwei einander nicht küssen (d. h. nicht ein<br />

Bild, das bloss dies darstellt.)». 16<br />

5. Das bedeutet, dass das ästhetische Denken einer<br />

«nichtkontradiktorischen Logik» gehorcht, die weder<br />

«klassisch» vom Typ eines «Entweder-oder» noch nichtklassisch<br />

im Sinne einer «mehrwertigen Logik» ist — vielmehr<br />

wäre sie als eine «nicht-nichtklassische Logik» vom<br />

Typ des «Sowohl-als-auch» zu bezeichnen, die Wissen einzig<br />

im Feld des Kontrastiven austrägt. Anders gewendet:<br />

Das Denken der Kunst argumentiert im Dinglichen, lässt<br />

Muster oder Unvereinbarkeiten hervortreten, deutet winzige<br />

Wahrnehmungsdifferenzen an oder arbeitet durch<br />

Brüche oder kalkulierte Störungen einer «Entdeckung»<br />

des Medialen zu. Korrespondierend folgt das ästhetische<br />

«Als» nicht der Struktur einer Bestimmung, welche durch<br />

Exklusion funktioniert, vielmehr operiert es inklusiv, um<br />

an der Grenze zwischen Kontrasten und Materialitäten<br />

anderes als sich selbst zu thematisieren<br />

in der Lage ist: Wenn die Kunst tatsächlich<br />

Ideen (ideas) zu versinnlichen<br />

vermag, die zugleich als Konzepte<br />

(concepts) mit diskursiven Ansprüchen<br />

erkennbar und d. h. identifizierbar<br />

bleiben, zeugt das nicht von einer<br />

allgemeinen Konstitutionsleistung der<br />

Kunst für das Denken? Weiter gefragt:<br />

Lässt sich das besondere Versinnlichungsgeschehen<br />

von Ideen in der<br />

Kunst für die Philosophie epistemisch<br />

und d. h. hier strategisch nutzen? Es<br />

geht dann darum, zu ergründen, auf<br />

welche Weise Kunst bei ihren Betrachter_innen<br />

andere, direktere, lokalere<br />

und parteiischere Formen der Reflexion<br />

anstösst, als dies gewöhnlich philosophische<br />

Diskurse tun. Dieter Mersch<br />

nennt diesen Anstoss, etwas Singuläres<br />

wirklich — d. h. nicht nur formal,<br />

sondern material — zu (be)denken,<br />

das Reservoir der Kunst, ihre negative<br />

Potenz, ihre «Idiosynkrasie». 30 Diese<br />

idiosynkratische Verkörperung einer<br />

Wissens um Wirklichkeit leistet der<br />

Film Melancholia von Lars von Trier.<br />

Das Anschauungswissen, das dieser<br />

Film bereitstellt, ergibt sich weder<br />

aus selbstreflexiven Teilaktualisierungen<br />

des Wirklichen noch aus einer als<br />

stimmig vorgestellten Filmillusion.<br />

Seine Radikalität liegt in der fortschreitenden<br />

Aufkündung jedes<br />

selbstverständlichen Weltbezugs und<br />

in der A∞rmation eines anderen<br />

Wirklichen, das umfassender und<br />

bedeutsamer als das irdische erscheint.<br />

Indem sich die fortgesetzt bewegte<br />

Perspektive auf ein theoretisches Problem<br />

sei an einem Beispiel gezeigt.<br />

Nehmen wir eine beliebige Ausstellung<br />

der französischen Künstlerin<br />

Sophie Calle. Ihr Werk kreist offensichtlich<br />

um Ideen von Intimität und<br />

Privatheit. Allerdings nicht um irgendwelche<br />

Ideen dazu. Man muss weder<br />

Richard Sennetts The Fall of Public<br />

Man (1977) noch Raymond Geuss’ Privatheit<br />

(2002) gelesen haben, um zu<br />

verstehen, wofür Calles Kunst Partei<br />

nimmt: Sie inszeniert Privatheit ex<br />

negativo als den prekären Versuch,<br />

den eigenen Dingen — Zeitschriften,<br />

Kleidern, Parfümflaschen — eine<br />

unbewusste Ordnung zu geben. Eine<br />

Ordnung, die nur so lange auch für<br />

uns unsichtbar bleiben kann, wie kein<br />

fremder Blick von aussen auf sie fällt,<br />

was im Moment des Ausgestelltwerdens<br />

unweigerlich passiert. Privatheit<br />

wäre, mit Sophie Calle begriffen, das<br />

heikle Privileg, sich mitten im Sichtbaren<br />

wie in einem optisch-unbewussten<br />

Kamera den Konventionen eines<br />

Hochzeitsfests ausliefert, decouvriert<br />

sie dessen unterschwelligen Zwangscharakter,<br />

bewegt sich auf Momente<br />

des reinen Schauens und Hörens zu<br />

und revirtualisiert die Gegenwart —<br />

die auditive Erschütterung durch den<br />

herannahenden Planeten untermalt<br />

ab dem Moment seines Sichtbarwerdens<br />

im Teleskop den Film. Er zwingt<br />

ein unbekanntes, verstörendes Empfindungswissen<br />

auf, wenn er die Protagonistin<br />

jeden versöhnlichen Akt<br />

zurückweisen und gleichzeitig die ihr<br />

etwas zu erkennen zu geben, was einzig der Wahrnehmung<br />

— oder gar nicht aufgeht. Folglich erweist sich auch der<br />

Sinn des Reflexiven als verschieden vom diskursiven Schema.<br />

Partizipiert dort Reflexivität immer schon an Prozessen<br />

der Selbstreferenz, gleicht sie hier einer Evokation, die<br />

die Duplizität von Zeigen und Sichzeigen so zerdehnt, dass<br />

sie sich wechselseitig aneinander zu spiegeln vermögen —<br />

etwa bei Videoinstallationen, die notorisch etwas anderes<br />

vorzuführen scheinen, als die Blickkonvention zu sehen<br />

wünscht, oder durch Kratzgeräusche eines Streichinstruments,<br />

die die Gewalt der Tonerzeugung zu demonstrieren<br />

sucht, wie schliesslich bei Filmbildern, die allein ihre Perforierung<br />

oder Hell-Dunkel-Schattierungen vorführen.<br />

Erneut verhalten sich in dieser Hinsicht Künste und Wissenschaften<br />

quer zueinander — und zwar nicht nur in<br />

Ansehung von Sagen und Zeigen, sondern gleichfalls mit<br />

Blick auf ihre disparaten Reflexionsweisen. Letztere kann<br />

als eine «Reflexivität im Zeigen» beschrieben werden. Die<br />

Raum bewegen zu dürfen. Das ist philosophisch<br />

interessant, weil die Option<br />

des Für-sich-selbst-Unsichtbarwerdens<br />

durch die Präsentation im Kunstraum<br />

performativ nachgerade konterkariert<br />

wird. Wenn das Optisch-Unbewusste<br />

Privatheit garantiert, dann<br />

droht die damit einhergehende Anästhesierung<br />

der Eigen- wie der Fremdwahrnehmung<br />

just das auszuschliessen,<br />

was Privatheit zu eröffnen schien:<br />

das Stattfinden von Nähe. Calles Kunst<br />

kann so zum Anlass werden, Privatheit<br />

als Kontrollphantasie (über Eigenes<br />

wie Fremdes) ebenso zu verabschieden<br />

wie die Vorstellung, Intensität und<br />

Intimität basierten auf face-to-face-<br />

Kommunikation.<br />

Das Beispiel zeigt en miniature die<br />

charakteristische Zuspitzung eines an<br />

sich nicht-ästhetisch konnotierten<br />

Konzepts (hier: der Privatheit). Dass es<br />

sich um eine interessante sinnliche<br />

Realisierung eines problematischen<br />

Konzeptes und nicht einfach um eine<br />

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