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Pascale<br />
Criton<br />
123<br />
In Richtung<br />
eines Denkens<br />
von Mannig-<br />
faltig keiten<br />
Oszillatoren» zugeschrieben werden. Daraus folgen ein Experimentieren<br />
gegen alle Nachahmung oder Interpretation ebenso wie<br />
unendliche Variationen klanglicher Zeit-Räume.<br />
Guattari und<br />
die Heterogenese<br />
des Klanglichen<br />
Wenn Tausend Plateaus das gemeinsame Hauptwerk<br />
von zwei Autoren ist, dann wird man feststellen, wie<br />
sehr Guattari in seinen eigenen Schriften nicht nur<br />
auf der heterogenen Konsistenz der Musik beharrt,<br />
sondern auch auf dem semiotischen Feld, mit dem sie<br />
sich zusammenfügt, auf ihrer körperlosen, abstrakten<br />
Dimension sowie auf ihrer ansteckenden und zu den<br />
Kategorien transversaler Verformbarkeit. Seit<br />
L’inconscient machinique weist die Analyse der perzeptiven<br />
Überlappungen bei Proust auf die Möglichkeiten<br />
einer Semiotik, die die Repräsentation des<br />
Raums und der Körper ebenso aufs Spiel setzt wie das<br />
Einbrechen einer heterogenen Transversalität. 21 Es<br />
scheint, dass die Musik seit der — das kleine Thema<br />
von Vinteuil wieder aufgreifenden — Analyse mit<br />
einer «maschinischen» Dimension versehen wird, die<br />
die Ordnung der Sensationen neu aufteilt, sodass<br />
«jede mit den herrschenden Modellen konforme Mikropolitik<br />
von ihrem Eindringen bedroht wird.» 22 Das<br />
ist der Entstehungsmoment des Ritornells und der<br />
«ritornellisierenden» Funktion. Als Agens der Deterritorialisierung<br />
«geht das Ritornell unaufhörlich aus<br />
sich selbst heraus, transversalisiert sich und bringt<br />
[den Erzähler] dazu, eine wirkliche und nachhaltige<br />
mikropolitische Mutation zu durchlaufen» 23 . Als<br />
semiotische Materie, die sich der Diskursivität entzieht,<br />
produziert die Musik ihre Zeichenregime vermöge<br />
transitiver Logiken und spezifischer Artikulationsweisen.<br />
Wie Daniel Stern — oft von Guattari<br />
zitiert — erläutert, geht die Musik aus einem aufs<br />
Engste mit der Bewegung verbundenen A≠ekt der<br />
Vitalität hervor, der lange vor der Sprache entsteht<br />
und für die Konstitution eines beweglichen und zur<br />
Interaktion fähigen Selbst ausschlaggebend ist. 24 Die<br />
Problematik der Subjektivität wird in Chaosmose<br />
aktiv entworfen; in diesem letzten Buch von Félix<br />
Guattari wird die ästhetische Dimension des Ritornells<br />
als Kraft transversalisiert, die ein existenzielles<br />
Begehren, eine nicht mediatisierte, subjektive Fähigkeit<br />
neu zu verteilen imstande ist. Die existenzielle<br />
Funktion des Ritornells beruht auf einem intensiven<br />
Zusammenstoss (Einfangen und Wiederholung), der<br />
Komponenten autonomisiert und diese gemäss neuen<br />
Koppelungen neu zuweist, bis schliesslich — in der<br />
Kunst oder im Leben — komplexe Ritornelle entstehen,<br />
«die eine Komplexifizierung der Subjektivität<br />
möglich machen» 25 . Und wahrscheinlich nimmt der<br />
diesem Denken der neuerlichen Verkettung zugrunde<br />
liegende A≠ekt der «Ritornellisierung» teilweise<br />
durch den Verweis auf eine klangliche Heterogenität<br />
Konsistenz an. Man wird bemerken, in welchem Masse<br />
die von Guattari beschriebene «maschinische»<br />
Subjektivierung an Funktionen der Polyvozität, an<br />
«unkörperlichen» Austauschbeziehungen<br />
anknüpft und an<br />
quasi-musikalischen Ausdrücken<br />
Anleihe nimmt: Die Subjektivität<br />
ist «polyphon», das<br />
existenzielle Festklammern ist<br />
«rhythmisch», seine Funktionsweise<br />
ist «ritornellisierend».<br />
Kritisch im Hinblick auf die<br />
alles zerlegende Rationalität,<br />
wendet sich Guattari den Möglichkeiten<br />
eines ästhetischen<br />
Paradigmas zu, dessen von therapeutischen<br />
Ansätzen bis zu<br />
sozialen Praxen, vom Unbewussten<br />
bis zur Politik sowie<br />
von der Ethik bis zum Künstlerischen<br />
reichende Resonanzen<br />
er zusammenführt. Die näheren<br />
Umstände dieses «ethischen<br />
und ästhetischen» Paradigmas<br />
fordern uns zur Produktion<br />
einer Di≠erenz auf, die sich der<br />
Irrealität einer massenmediatisierten<br />
und homogenisierten<br />
Subjektivität zu widersetzen<br />
vermag. In diesem neuen paradigmatischen<br />
Kontext wird die<br />
Kunst zweifellos mit besonderem<br />
Vertrauen bedacht, da sie<br />
in Zusammenhang mit einem<br />
Experimentieren und einer<br />
Ethik des Scha≠ens über ein<br />
praktisches Wissen verfügt. 26<br />
Der Bereich der Kunst wird also<br />
in einem paradigmatischen<br />
Feld «neu verortet», das aus<br />
unterschiedlichen Elementen<br />
besteht; die künstlerischen Praxen<br />
des «Bruchs und der Naht<br />
[Suture]» werden aufgewertet,<br />
insofern sie ein Universum mit<br />
Sinn erfüllen können, das den<br />
leeren Zeichen einer universalisierenden<br />
Subjektivität unterworfen<br />
ist. Denn die Zeichenregime,<br />
die durch die planetare<br />
Massenmediatisierung ins<br />
Werk gesetzt werden, greifen<br />
auf der Ebene von Subjektivierungsprozessen<br />
und semiologischen<br />
Komponenten ein: Wie<br />
fühlt man; wie repräsentiert<br />
man sich; welche Determinierungen<br />
erfährt man? 27 Gegenüber<br />
der kapitalistischen<br />
Indienstnahme fordert Guattari<br />
eine — ethische, ästhetische<br />
und politische — Gemeinschaft,<br />
der er eine Mutationsfunktion<br />
zuerkennt, dazu auf, eine subjektive<br />
und prozessuale Kreativität<br />
zu erproben. 28 Es geht um<br />
die Kreativität einer auf der<br />
Ebene ästhetischer E≠ekte ver-<br />
19 – Vgl. Pascale Criton,<br />
«A propos d’un<br />
cours du 20 mars<br />
1984. La ritournelle<br />
et le galop», in:<br />
Gilles Deleuze, une vie<br />
philosophique, hrsg.<br />
v. Eric Alliez, Paris<br />
1998, S. 513–523.<br />
20 – Die musikalische<br />
Partitur ist ein diagrammatisches<br />
Dispositiv mit einer<br />
horizontalen Zeitachse,<br />
einer vertikalen<br />
Achse von Gegebenheiten,modularen<br />
Verteilungen<br />
sowie einem transversalen<br />
Produkt aus<br />
den Bezügen. Das<br />
Intensive ist zur Konnexion<br />
sowie zur<br />
Dekonnexion fähig,<br />
es kann übertragen<br />
und zugeordnet werden<br />
und steht der<br />
Reorganisation von<br />
Funktionen offen, je<br />
nach Effektuierung<br />
eines Diagramms.<br />
21 – Félix Guattari,<br />
L’inconscient machinique.<br />
Essai de schizo-analyse,<br />
Paris<br />
1979, S. 251.<br />
22 – Ebd., S. 252.<br />
23 – Ebd., S. 244.<br />
24 – Vgl. Daniel Stern, Die<br />
Lebenserfahrung des<br />
Säuglings, Stuttgart<br />
1996, S. 83–93. Da<br />
das Zitat in der englischen<br />
Fassung in<br />
dieser Form nicht<br />
aufzufinden war,<br />
folgt die Übersetzung<br />
hier der Wiedergabe<br />
von Pascale Criton:<br />
«Tanz und Musik<br />
sind ausgezeichnete<br />
Beispiele für die<br />
Vitalitätsaffekte, die<br />
vor den ‹kategoriellen›<br />
Affekten<br />
(Traurigkeit, Freude)<br />
zu tage treten und<br />
sich mit dynamischen,<br />
kinetischen<br />
Begriffen charakterisieren<br />
lassen»;<br />
vgl. für die französische<br />
Version: Daniel<br />
Stern, Le monde<br />
interpersonnel du<br />
nourisson, Paris<br />
1989, S. 77–90.<br />
25 – Félix Guattari,<br />
Chaosmose, Paris<br />
1992, S. 35.