Fall 6: <strong>Der</strong> Entschluß zur Dissidenz: Rolf Henrich58Rolf Henrich nahm 1964 an <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität Jena ein Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaftenauf - zu seinen akademischen Lehrern gehörten u.a. Gerhard Haney und GerhardRiege -; im gleichen Jahr wurde er Mitglied <strong>der</strong> <strong>SED</strong>. Politisch engagiert und intellektuell ambitioniert,orientierte er sich zunächst auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Nach dem Wechsel andie Humboldt-Universität zu Berlin geriet er jedoch in die dortigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen umdie Reformprozesse in <strong>der</strong> SSR und <strong>der</strong>en Nie<strong>der</strong>schlagung durch die militärische Intervention<strong>der</strong> Warschauer-Vertrags-Staaten - eine Studie über die „Verinnerlichung von Normen“ wurdeob ihres ‚revisionistischen Gehalts‘ nicht als Diplomarbeit anerkannt und erst mit <strong>der</strong> Bearbeitungeines an<strong>der</strong>en Themas konnte Henrich seine Ausbildung zum Diplomjuristen abschließen,sein Forschungsstudium mußte er abbrechen. Seit 1973 arbeitete Henrich als Rechtsanwaltin Eisenhüttenstadt, von 1973 bis 1983 war er Parteisekretär des Bezirkskollegiums Frankfurt(O<strong>der</strong>). Die problematischen und frustrierenden Erfahrungen in Mandantenvertretung undFunktionsausübung verstärkten die Distanz gegenüber vormals selbst akzeptierter Parteiideologieund drängten zur begreifenden Reflexion <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wirklichkeit und des eigenenPlatzes darin. Henrichs intellektuell-moralisches Umdenken vollzog sich über eine kontinuierlichbetriebene breite Aufnahme sozialwissenschaftlichen Gedankenguts und wurde beför<strong>der</strong>tdurch die Kommunikation in einem privaten Freundeskreis. Belangvoll wurde insbeson<strong>der</strong>e RudolfBahros „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“. In dem seinem Werk„<strong>Der</strong> vormundschaftliche Staat“ beigegebenen Text „Warum ich dieses Buch geschrieben habe“beschreibt Henrich seinen geistigen Entwicklungsprozeß. Hier heißt es u.a.:„Ich habe wirklich daran geglaubt, daß die Gesellschaftsformation, in <strong>der</strong> wir leben, <strong>der</strong> praktischeFortschritt sei gegenüber dem kapitalistischen Westen ... <strong>Der</strong> Bau <strong>der</strong> Mauer war damals für michdurchaus eine notwendige, wenngleich vorübergehende Maßnahme politischer Machtausübung. Mitihrer Hilfe wollten wir ja die Voraussetzungen schaffen, damit sich die Gesetzmäßigkeiten des Sozialismusunter den Bedingungen <strong>der</strong> Ost-West-Konfrontation ungestört entfalten konnten. ... Es mag einerheute nur schwer verständlichen politischen Naivität geschuldet gewesen sein: Doch in <strong>der</strong> Mitte<strong>der</strong> sechziger <strong>Jahre</strong> gewann ich tatsächlich den Eindruck, die politökonomischen Verhältnisse in <strong>der</strong>DDR würden sich auf <strong>der</strong> ganzen Linie zum Besseren wenden. In den Betrieben und Kombinatenwurden damals ansatzweise Formen <strong>der</strong> Arbeiterselbstverwaltung ausprobiert (Produktionskomitees,gesellschaftliche Räte). Und unser Rechtswesen wurde gründlich reformiert. Erst mit dem Einmarschdeutscher Truppen in die SSR wurde mein Glaube an die historische Überlegenheit des Sozialismusin seinen Grundfesten erschüttert. ... 1968 ist mir klargeworden, daß die marxistische Geschichtsauffassungin dieser konkreten Situation nunmehr beschworen wurde, um das imperialistischeMachtgebaren <strong>der</strong> Politbürokratie zu legitimieren.“ 41Im Gespräch berichtet Henrich: „Mein eigentlicher innerer Ausgangspunkt - es gab davor natürlichauch gewisse Überlegungen - war die Verurteilung von Bahro. ,Die Alternative' erschien mir und meinenFreunden als letzte ernst zu nehmende theoretische Frucht des marxistischen Denkens. DiesesBuch war eine theoretische Plattform, <strong>der</strong> man nicht unbedingt zustimmen mußte, die aber ein solchakzeptables Niveau aufwies, daß man einfach nicht daran vorbei konnte. ... <strong>Der</strong> Kreis, in dem ich michseinerzeit bewegte, umfaßte etwa acht bis zwölf Personen; zu ihm gehörten u.a. Hans-Joachim Maaz41R. Henrich: <strong>Der</strong> vormundschaftliche Staat, Leipzig und Weimar 1990, S. 310-312.
59und ein weiterer Psychotherapeut, außer mir noch ein an<strong>der</strong>er Rechtsanwalt, Ludwig und Erika Drees- sie hat später das Neue Forum mit begründet - aus Stendal. Das war so ein engerer Zirkel, wie es fürdie damalige Zeit typisch war; man befragte sich immer: Was macht man? Und die Geschehnisse umBahro waren ein ganz starker psychologisch-ethischer Impuls, sie brachten in das ganze Fragen einegewisse Verbindlichkeit. In dem Sinne, daß man jetzt etwas tun muß, weil man sich sonst nicht mehrrichtig im Spiegel ansehen kann, daß man jetzt selbst auch irgendwo Farbe bekennen muß - so jedenfallsgeht es nicht weiter. Dieses Gefühl wurde für uns 1978/79/80 bestimmend, es war auch innerhalb<strong>der</strong> Partei erkennbar, beispielsweise im Parteilehrjahr. Ich war ja seinerzeit Parteisekretär im Kollegium<strong>der</strong> Rechtsanwälte, und auch dort wurde relativ offen debattiert. Sie konnten eigentlich alles sagen,mußten es vielleicht etwas an<strong>der</strong>s verpacken. Einen praktischen Vorschlag zur Rechtspolitik, dieuns natürlich beson<strong>der</strong>s interessierte, konnte man diskutieren, es konnten auch alle einer Meinungsein - jedoch gelang es nie, ihn weiterzutransportieren. Das war die Schallmauer, da waren immer dieGrenzen gesetzt. Damit durchzukommen scheiterte schon an dem für das Kollegium zuständigen Mitarbeiter<strong>der</strong> <strong>SED</strong>-Bezirksleitung, er entschied, was er weiterreichte. Beispielsweise haben wir uns imKollegium mit <strong>der</strong> Feierabendtätigkeit befaßt, es ging um folgendes: Die Baubilanzen reichten vornund hinten nicht, die Betriebe waren bemüht, das über Feierabendtätigkeit zu regeln. Gemäß <strong>der</strong> einschlägigenVerordnung gab es ca. fünf Mark pro Stunde - dafür hätte natürlich niemand gearbeitet. Alsowurden die Feierabendbrigaden über den Objektlohn motiviert, so kamen 10 bis 15 Mark heraus.So lief das, aber eine Zeitlang versuchte die Rechtspolitik, diese Leute zu kriminalisieren. Plötzlichwurden bie<strong>der</strong>e Familienväter wegen Betrugs angeklagt. Da konnte man als Strafverteidiger o<strong>der</strong> überdas Kollegium sagen: das ist Wahnsinn, das hat auch mit Betrug nichts zu tun, weil sich Betrieb undFeierabendbrigade ja faktisch einig waren. Man erreichte nichts. Irgendwann merkte man ganz oben,daß es so wohl auch nicht geht; die Bezirksleitung <strong>der</strong> <strong>SED</strong> wurde beauftragt, eine Analyse vorzulegen,sie reichte das an die Bezirksstaatsanwaltschaft weiter, die kam natürlich zur selben Position wiewir, und dann brachen die Prozesse wie<strong>der</strong> ab. Aber vorher wurden jahrelang Bauarbeiter angeklagtund verurteilt. Also selbst bei solchen auf <strong>der</strong> Hand liegenden Dingen gelang es nicht, etwas in denApparat einzuspeisen o<strong>der</strong> irgendeinen Einfluß auf die Rechtspolitik, sei es Gesetzgebung o<strong>der</strong>Rechtsprechung zu nehmen.“ (Gespräch, Zeile 22-61)Neben seiner anwaltlichen Berufsarbeit und außerhalb <strong>der</strong> akademischen Institutionen, durcheine umfängliche Rezeption klassischer und zeitgenössischer Literatur jedoch am sozialtheoretischenDiskurs partizipierend und die Debatten seiner intellektuell geprägten Kommunikationskreiseaufnehmend, begann Henrich eingangs <strong>der</strong> 80er <strong>Jahre</strong> seine wissenschaftliche Auseinan<strong>der</strong>setzungmit dem Staatssozialismus. Aus den zunächst erarbeiteten und im privatenFreundeskreis diskutierten Essays entstand das Buch „<strong>Der</strong> vormundschaftliche Staat“, das imApril 1989 in <strong>der</strong> Bundesrepublik veröffentlicht wurde. Anregend für Henrichs eigenständigesozialtheoretische Konzeptionsentwicklung waren vor allem Bahros Wie<strong>der</strong>aufnahme des Begriffs<strong>der</strong> asiatischen Produktionsweise, die Habermassche „Theorie des kommunikativen Handelns“mit ihrer Unterscheidung von System und Lebenswelt und die Vorstellungen Rudolf Steinerszur Ordnung des sozialen Organismus. Henrich schöpft gleichfalls aus seiner Kenntnis <strong>der</strong>antiken sowie <strong>der</strong> mittelalterlichen und klassischen deutschen Philosophie; vom fortlaufendenVerfolgen <strong>der</strong> offiziösen DDR-Gesellschaftswissenschaft, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Rechtstheorie, kündendie kritischen Bezugnahmen u.a. auf Klenner und Riege. Auf weitere wesentliche Einflüssemacht er im Gespräch aufmerksam:„(Ich) muß natürlich auf Marx verweisen. Man war bemüht, das ist völlig klar, sich mit den Teilen seinesWerks auseinan<strong>der</strong>zusetzen, die nach <strong>der</strong> offiziellen Doktrin weniger wichtig waren und linksliegengelassen wurden - mit dem vormarxistischen Marx sozusagen. Gerade diese Marx-Texte aufzunehmen,war ja innerhalb <strong>der</strong> Partei nicht unüblich, das haben wahrscheinlich viele Leute gemacht.Den ‚Grundrissen‘ und den ‚Ökonomisch-philosophischen Manuskripten‘ widmete man sich mit <strong>der</strong>größten Aufmerksamkeit. Insofern war Marx ein Baustein; ein an<strong>der</strong>er war die Beschäftigung unseres