Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Januar 2015 – Juni 2016
Menschenrechtsbericht_2016
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Menschenrechtslage Geflüchteter <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
Gesundheitsversorgung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erstaufnahmee<strong>in</strong>richtung<br />
Neben <strong>der</strong> Erstuntersuchung s<strong>in</strong>d die Län<strong>der</strong><br />
verpflichtet, e<strong>in</strong>e gesundheitliche Versorgung für<br />
Bewohner_<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> den Erstaufnahmee<strong>in</strong>richtungen<br />
sicherzustellen <strong>–</strong> überwiegend <strong>in</strong> sehr kurzer<br />
Zeit, mit sehr knappen Ressourcen und unter<br />
Aufrechterhaltung des Regelbetriebs. Dabei ist<br />
<strong>der</strong> faktische Zugang zu Gesundheitsleistungen<br />
erschwert. Soweit dieser über Krankensche<strong>in</strong>e<br />
gewährleistet wird, müssen erkrankte Personen<br />
diesen erst bei den Gesundheits- o<strong>der</strong> Sozialämtern<br />
beantragen. Dies führt zu erheblichen Verzögerungen<br />
bei <strong>der</strong> Behandlung, da <strong>der</strong> Betreffende<br />
aus <strong>der</strong> Unterkunft zum Amt muss, um sich e<strong>in</strong>en<br />
Krankensche<strong>in</strong> zu holen, und erst im Anschluss <strong>in</strong><br />
die Arztpraxis gehen kann. Dies kann bei Unterbr<strong>in</strong>gungen<br />
im ländlichen Raum zu langen Verzögerungen<br />
und erheblichen Fahrtkosten führen. Da<br />
<strong>der</strong> Zugang zu ärztlicher Versorgung mit erheblichen<br />
Hürden für die Betroffenen verbunden ist,<br />
kann dies zu gefährlichen Situationen führen, zum<br />
Beispiel wenn nachts das Wachpersonal entscheidet,<br />
ob bei <strong>der</strong> Rettungsstelle angerufen wird o<strong>der</strong><br />
nicht.<br />
In den meisten Bundeslän<strong>der</strong>n werden nach<br />
eigenen Angaben ärztliche Sprechstunden <strong>in</strong><br />
den Erstaufnahmee<strong>in</strong>richtungen angeboten. Dies<br />
bezieht sich vor allem auf allgeme<strong>in</strong>ärztliche<br />
Sprechstunden, teilweise auch auf k<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche,<br />
gynäkologische o<strong>der</strong> psychiatrische Sprechstunden.<br />
In an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n werden Bewohner_<strong>in</strong>nen<br />
<strong>der</strong> Erstaufnahmee<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
für die fachärztliche Behandlung direkt<br />
<strong>in</strong> den Praxen <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>gelassenen Ärzt_<strong>in</strong>nen<br />
mediz<strong>in</strong>isch versorgt.146 In allen Län<strong>der</strong>n kam es<br />
im Berichtszeitraum zu personellen Engpässen bei<br />
<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Versorgung. Daher haben zum<br />
Beispiel Län<strong>der</strong> und Kommunen mobile Ärzteteams<br />
e<strong>in</strong>gerichtet. Auch wurde mit dem Asylpaket<br />
I die Möglichkeit geschaffen, dass Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
mit mediz<strong>in</strong>ischen Kompetenzen Ärzte <strong>in</strong> den<br />
Erstaufnahmee<strong>in</strong>richtungen unterstützen (§ 90<br />
AsylG).147<br />
Zugang zur Gesundheitsversorgung<br />
Mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Gesundheitskarte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Län<strong>der</strong>n hat sich <strong>der</strong> Zugang zum Recht auf<br />
Gesundheit für geflüchtete Menschen vere<strong>in</strong>facht.<br />
Statt wie bisher Krankensche<strong>in</strong>e über die Gesundheits-<br />
o<strong>der</strong> Sozialämter zu beantragen, können sie<br />
nun direkt <strong>in</strong> die Arztpraxen gehen. Dabei hat sich<br />
<strong>der</strong> Leistungsumfang nicht verän<strong>der</strong>t: Auch Flüchtl<strong>in</strong>gen<br />
mit Gesundheitskarte steht <strong>in</strong> den ersten 15<br />
Monaten ihres Aufenthalts <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lediglich<br />
e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Notversorgung zu. Berichte<br />
aus <strong>der</strong> Praxis bestätigen, dass die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong><br />
Gesundheitskarte für Flüchtl<strong>in</strong>ge zu e<strong>in</strong>er bürokratischen<br />
und f<strong>in</strong>anziellen Entlastung aller zuständigen<br />
Behörden führt.148<br />
Ob die Gesundheitskarte e<strong>in</strong>geführt wird, bleibt<br />
den Län<strong>der</strong>n überlassen. Mit Stand Juli <strong>2016</strong><br />
haben Berl<strong>in</strong>, Brandenburg, Bremen, Hamburg<br />
und Schleswig-Holste<strong>in</strong> die Gesundheitskarte<br />
e<strong>in</strong>geführt. In Thür<strong>in</strong>gen ist die E<strong>in</strong>führung geplant.<br />
Auch <strong>in</strong> Hessen, Nie<strong>der</strong>sachsen, Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />
und Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz wurden vonseiten des<br />
Landes die Voraussetzungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong><br />
Gesundheitskarte geschaffen. Inwieweit dies aber<br />
tatsächlich umgesetzt wird, hängt e<strong>in</strong>erseits von<br />
Verhandlungen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> mit den Krankenkassen<br />
ab. An<strong>der</strong>erseits können die Kommunen o<strong>der</strong><br />
Landkreise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Län<strong>der</strong>n selbst entscheiden,<br />
ob sie die Gesundheitskarte e<strong>in</strong>führen wollen o<strong>der</strong><br />
nicht. Teilweise wollen die Kommunen o<strong>der</strong> Landkreise<br />
von ihrem Beitrittsrecht aus Kostengründen<br />
aber ke<strong>in</strong>en Gebrauch machen (zum Beispiel<br />
<strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>sachsen, Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz, Saarland),<br />
e<strong>in</strong>ige entscheiden sich für und an<strong>der</strong>e gegen die<br />
E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Gesundheitskarte (zum Beispiel<br />
<strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen). Baden-Württemberg,<br />
Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und<br />
Sachsen-Anhalt haben sich gegen die E<strong>in</strong>führung<br />
<strong>der</strong> Gesundheitskarte ausgesprochen.149<br />
Der Zugang zu mediz<strong>in</strong>ischer Versorgung ist somit<br />
je nach Land und Kommune sehr unterschiedlich<br />
geregelt.150 Viele Akteure im Gesundheitswesen<br />
beklagen, dass aufgrund <strong>der</strong> une<strong>in</strong>heitlichen Rege-<br />
146 Antwort <strong>der</strong> Staatskanzleien auf Fragebogen des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Stand Mai <strong>2016</strong>).<br />
147 Diese Regelung ist nur befristet gültig (bis 24.10.2017).<br />
148 Deutscher Bundestag (<strong>2016</strong>g), S. 6.<br />
149 Bertelsmann Stiftung (<strong>2016</strong>), S. 4.<br />
150 Siehe auch Bertelsmann Stiftung (<strong>2016</strong>).