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Nr. 55 - Sommer 2015

Provence: Sénanque, klösterliche Besinnung in der Provence Baskenland: Corniche Basque, von Saint-Jean-de-Luz nach Hendaye Ärmelkanal: Le Touquet-Paris-Plage, ein Strand für die Hauptstadt Korsika: Wenn Steine zu sprechen beginnen Loire-Tal: Saumur: Stall, Schloss, Fluss Chantals Rezept: Mes quiches favorites

Provence: Sénanque, klösterliche Besinnung in der Provence
Baskenland: Corniche Basque, von Saint-Jean-de-Luz nach Hendaye
Ärmelkanal: Le Touquet-Paris-Plage, ein Strand für die Hauptstadt
Korsika: Wenn Steine zu sprechen beginnen
Loire-Tal: Saumur: Stall, Schloss, Fluss
Chantals Rezept: Mes quiches favorites

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17.50 Uhr: Ich bin tatsächlich auf meinem Bett eingeschlafen.<br />

Normalerweise lege ich mich tagsüber ungern<br />

hin, doch hier in Sénanque ist plötzlich alles anders. Ich<br />

genieße es, wie sich mein Leben verlangsamt. Ich schaue<br />

aus dem Fenster. Das Licht ist sehr warm. Die Abendsonne<br />

sorgt für schöne Farben. Wenn ich mich beeile,<br />

schaffe ich es noch zur Vesper, die um 18.00 Uhr beginnt.<br />

Schließlich will ich vom klösterlichen Leben soviel wie<br />

möglich mitbekommen. Also beeile ich mich.<br />

Die Vesper erinnert mich an die Laudes am Morgen.<br />

Erneut beginnt die Zeremonie mit einer Eröffnung, auf<br />

die die Gesänge der Mönche folgen. Wie am Morgen<br />

durchdringen mich ihre Stimmen. Es folgen Psalmen,<br />

Fürbitten, Lesungen aus der Bibel, Gebete und am Ende<br />

der Segen. Mit der Vesper endet der Arbeitstag. Entspannt<br />

gehe ich aus der Kapelle. Dabei komme ich mit Bruder<br />

Jean-Marie ins Gespräch. Er fragt mich, wie mein erster<br />

Tag bisher verlaufen sei. Ich erzähle ihm, was ich gemacht<br />

habe und wie wohltuend ich bereits die Stille und Ruhe<br />

hier im Kloster empfinde. Er freut sich und wünscht mir<br />

einen schönen Abend. Außerdem<br />

sagt er mir, dass ich ihn<br />

oder seine Mitbrüder jederzeit<br />

ansprechen könnte, wenn ich<br />

Fragen oder Redebedarf hätte.<br />

Ich spüre, dass dies ernst gemeint<br />

und keine Floskel ist.<br />

Es folgen das Abendbrot,<br />

ein kleiner Rundgang durch<br />

den Kreuzgang und die Komplet<br />

um 20.15 Uhr, das Nachtgebet,<br />

womit der Tag beendet<br />

und die Nachtruhe eingeläutet<br />

wird. Ich ziehe mich danach<br />

auf mein Zimmer zurück, lese<br />

noch ein wenig und schlafe<br />

ein.<br />

Am nächsten Tag klingelt<br />

mein Wecker wieder um 4.00<br />

Uhr. Dieses Mal schaffe ich<br />

es, meine Augen zu öffnen<br />

und aufzustehen. Schließlich<br />

will ich die Vigil nicht ein<br />

zweites Mal verpassen. Als ich<br />

in die Kapelle komme, bin ich<br />

mit den Mönchen fast alleine.<br />

Obwohl rund zwei Dutzend<br />

Gäste wie ich im Kloster<br />

anwesend sind, scheint das<br />

nächtliche Gebet für die meisten einfach zu früh zu sein.<br />

Ich lausche wieder gebannt den sonoren Stimmen der<br />

Mönche. Egal, ob sie gerade singen, vorlesen oder beten,<br />

ich fühle mich fast in einen Trancezustand versetzt. Ich<br />

folge der Zeremonie und merke, wie meine Gedanken auf<br />

Wanderschaft gehen. Es ist ein schönes Gefühl. Ein Gefühl,<br />

zu sich selbst zu finden.<br />

Diesen zweiten Tag will ich komplett im Kloster<br />

verbringen. Ich nehme an den gemeinsamen Mahlzeiten<br />

teil, besuche alle Gebete und Messen und ziehe mich<br />

dazwischen entweder mit einem Buch zurück oder lasse<br />

einfach meinen Gedanken freien Lauf. Obwohl ich gerade<br />

einmal 48 Stunden im Kloster verbracht habe, spüre ich,<br />

wie die letzten Tage in weite Ferne rücken. Meine Anreise<br />

ist fast nur noch eine blasse Erinnerung. Ich weiß zwar<br />

noch, wie ich mein Flugzeug in Berlin beinahe verpasste,<br />

wie man meine Mietwagenreservierung am Flughafen<br />

von Marseille erst nicht im System fand, wie ich über eine<br />

volle Autobahn in Richtung Norden fuhr und wie landschaftlich<br />

spektakulär die letzten Kilometer von Gordes<br />

nach Sénanque waren, doch all das scheint weit weg. Das<br />

Kloster lag wie ein kleines Versprechen auf eine geruhsame<br />

Zeit im Tal. Zeitlos hübsch, architektonisch eigentlich<br />

wenig spektakulär und trotzdem einmalig schön.<br />

Natürlich erinnere ich mich auch an meinen Alltag: an<br />

das Hetzen von einem geschäftlichen Termin zum nächsten,<br />

das ständige Gefühl, mich besser ernähren und mehr<br />

Sport machen zu müssen, an<br />

Freunde, die sich beklagen,<br />

dass ich zu wenig Zeit für sie<br />

habe, an Freunde, die nach<br />

meiner Meinung zu wenig<br />

Zeit für mich haben, an meine<br />

Eltern, die mich gerne öfter<br />

sehen würden, und an meinen<br />

Bruder, der gerade sein Leben<br />

auf den Kopf gestellt hat und<br />

eine neue Existenz auf dem<br />

platten Land beginnt. An all<br />

das erinnere ich mich natürlich,<br />

trotzdem scheint es hier<br />

in den kargen Mauern von<br />

Sénanque keine Rolle mehr zu<br />

spielen. Ich vermisse auch gar<br />

nicht mehr mein Mobiltelefon,<br />

das auf dem kleinen Tisch<br />

in meinem Zimmer liegt und<br />

hier ohnehin keinen Empfang<br />

hat. Mit Gedanken über<br />

den Sinn des Lebens und den<br />

Irrsinn unserer heutigen Zeit<br />

schlafe ich ein.<br />

Am dritten Tag ist es für<br />

mich bereits eine Selbstverständlichkeit<br />

geworden, um<br />

4.00 Uhr morgens aufzustehen<br />

und am Leben der Klosterbrüder teilzunehmen. Ich<br />

kenne inzwischen ihre Gesichter und weiß es zu schätzen,<br />

wenn sie mir zunicken oder zulächeln. Auch die Abläufe<br />

der einzelnen Zeremonien sind mir schon vertraut. Ich<br />

käme gar nicht mehr auf den Gedanken, eines der Gebete<br />

zu verpassen. Sie geben meinem Tag einen Rahmen.<br />

Einen Rahmen, der mir gut tut und der verhindert, mich<br />

Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2015</strong> · 35

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