Nr. 45 - Mai / Juni 2013
Côte d'Azur: Grasse, der Duft einer Hauptstadt Lothingen: Saint-Louis / Arzviller: ein Fahrstuhl für Schiffe Camping: Frankreichs außergewöhnliche Campingplätze Normandie: Heimat des Impressionismus Loire-Mündung: zwischen Nantes und Saint-Nazaire, Kunst am Fluss Pyrenäen: le Train Jaune, ein Zug als Wahrzeichen Interview: Patricia Kaas Rezept: Fondant au chocolat au cœur de framboises Wein: die Kunst der Karaffierens und Dekantierens Genuss: die AOC der Pays de la Loire
Côte d'Azur: Grasse, der Duft einer Hauptstadt
Lothingen: Saint-Louis / Arzviller: ein Fahrstuhl für Schiffe
Camping: Frankreichs außergewöhnliche Campingplätze
Normandie: Heimat des Impressionismus
Loire-Mündung: zwischen Nantes und Saint-Nazaire, Kunst am Fluss
Pyrenäen: le Train Jaune, ein Zug als Wahrzeichen
Interview: Patricia Kaas
Rezept: Fondant au chocolat au cœur de framboises
Wein: die Kunst der Karaffierens und Dekantierens
Genuss: die AOC der Pays de la Loire
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Chance bekam, auf dieser Linie tätig zu sein, hat er nicht<br />
lange gezögert, obwohl er zurzeit jeden Morgen aus Perpignan<br />
anreisen muss. Noch, denn er ist bereits dabei, ein<br />
Haus in der Nähe der Bahnstrecke zu bauen. « Man kann<br />
dem Charme dieses Zuges einfach nicht entkommen »,<br />
erzählt er uns dazu mit einen Lächeln im Gesicht.<br />
Dies scheinen auch die Passagiere so zu empfinden.<br />
An diesem Frühlingstag sind vor allem Einheimische<br />
unterwegs, die den Gelben Zug als ganz normales Transportmittel<br />
nutzen. Anders als im Sommer, wenn viele<br />
Touristen an Bord sind. Doch selbst die Stammfahrgäste<br />
schauen meist aus den Fenstern, obwohl sie die Strecke<br />
eigentlich bestens kennen. Das Panorama ist schlicht zu<br />
einzigartig. « Jede Fahrt ist anders », meint unsere Sitznachbarin,<br />
mit der wir nach einigen Kilometern Reise ins<br />
Gespräch kommen. « Ich nehme den Zug fünfmal in der<br />
Woche. Trotzdem entdecke ich immer wieder etwas Neues.<br />
Haben Sie gerade den Steinbock da drüben gesehen? »,<br />
fragt sie und zeigt mit ihrem Finger aus dem Fenster, als<br />
wolle sie das soeben Gesagte bildhaft unterstreichen. Der<br />
Steinbock lässt sich von dem vorbeifahrenden Zug nicht<br />
beeindrucken. Genauso wenig wie die Kühe, die zahlreich<br />
neben den Gleisen grasen.<br />
Je weiter der Zug in die Berge vordringt und die einsame<br />
Landschaft an uns vorbeizieht, desto mehr fragen<br />
wir uns jedoch, warum diese Strecke wohl gebaut wurde.<br />
Zwar ist die Szenerie grandios, aber weit und breit sind<br />
kaum Spuren menschlicher Besiedelung zu erkennen. Es<br />
leuchtet nicht sofort ein, warum man eine Bahntrasse in<br />
eine derart einsame Berggegend baute. Doch die « Ligne<br />
de Cerdagne », wie die Strecke auch genannt wird, galt<br />
lange Zeit als strategisch bedeutend. Sie führt durch die<br />
Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien. Eine<br />
Gegend, die früher wichtig war, um das Languedoc vor<br />
Invasionen aus dem Süden zu schützen. Schon Ludwig<br />
XIV. wusste dies.<br />
Diese strategische Bedeutung kann der aufmerksame<br />
Reisende schon vor Beginn der Zugreise in Villefranchede-Conflent<br />
erahnen, zeugen doch beeindruckende mittelalterliche<br />
Befestigungsanlagen in der 1090 gegründeten<br />
Stadt bis heute von der wehrhaften Vergangenheit. Einen<br />
ähnlichen Eindruck bekommt man später auf der Tour,<br />
wenn man den Bahnhof von Mont-Louis erreicht, die<br />
höchstgelegendste befestigte Stadt Frankreichs (1.580<br />
Meter über NN). Dicke Stadtmauern, die heute zum<br />
Welterbe der UNESCO gehören, bilden einen Kontrast<br />
zu dem Gefühl der Freiheit, das die Landschaft zuvor<br />
verströmt hat. Gebaut wurden sie einst vom großen französischen<br />
Festungsbauer Vauban im Auftrag von Ludwig<br />
XIV. Zwar mussten sie ihre Tauglichkeit niemals unter<br />
Beweis stellen, doch die Stadtmauern lassen keinen Zweifel<br />
aufkommen, dass man hier früher Angst vor Invasionen<br />
hatte.<br />
Die Bewohner<br />
aus ihrer Isolation befreien<br />
Doch es ging beim Bau der Eisenbahnstrecke nicht<br />
nur um strategische Überlegungen. Man wollte auch die<br />
Bewohner einsamer Bergdörfer aus ihrer Isolation befreien.<br />
Vor dem Bau brauchte man von Latour-de-Carol nach<br />
Perpignan sieben Stunden oder mehr. Außerdem war<br />
der Weg wegen Steinschlägen nicht ungefährlich und im<br />
Winter wegen Schnees oft unpassierbar. So fühlten sich<br />
die Menschen in der Gegend, die insgesamt rund 20.000<br />
Einwohner zählt, wie von der Welt abgeschnitten. Eine<br />
Situation, die nicht ewig so bleiben konnte. Um für Abhilfe<br />
zu sorgen, erschien der Bau einer Zugstrecke als die<br />
beste Lösung.<br />
Wenn es heute im Winter viel schneit und die Straßen<br />
blockiert sind, ist die Bahn unverändert die einzige Möglichkeit,<br />
von Dorf zu Dorf zu reisen oder die Region zu<br />
verlassen. Der Gelbe Zug wird dann im wahrsten Sinne<br />
des Wortes zur Lebensader der Gegend.<br />
Frankreich erleben · <strong>Mai</strong> / <strong>Juni</strong> <strong>2013</strong> · 65