KULTURSCHOCK Bauverbot für Deutsche 94 · Frankreich erleben · <strong>Mai</strong> / <strong>Juni</strong> <strong>2013</strong>
Sag’ mal, standen die Bauabsperrungen vor Eurem Haus nicht schon hier, als ich letztes Jahr zu Deinem « Geburtstag gekommen bin? », fragt mich meine gute Freundin aus Bordeaux, als ich sie gerade vom Bahnhof abhole. Es ist bei uns Tradition, dass wir uns mindestens einmal im Jahr sehen, oft zum Geburtstag. « Ja, das stimmt. Die erneuern doch unsere Straße », antworte ich. « Aber wurde damit nicht schon vor zwei Jahren begonnen? », hakt mein Besuch ungläubig nach. « Ja, richtig », kann ich nur zustimmen. Doch meine Freundin scheint unverändert irritiert zu sein: « Das heißt, die buddeln hier schon seit zwei Jahren und sind immer noch nicht fertig? » Mir bleibt nur noch ein mitleidiges Nicken übrig. Wie soll man auch erklären, dass die Sanierung einer gerade einmal einen Kilometer langen Straße schon zwei Jahre in Anspruch nimmt und nach neuesten Informationen noch mindestens ein weiteres Jahr dauern soll? Dabei ist es noch nicht einmal ein riesiger Umbau. Die Fahrbahn in der Mitte und die dort liegenden Straßenbahnschienen werden nicht angefasst. Es geht lediglich darum, ein paar Rohre und Leitungen unter den Bürgersteigen zu erneuern, das Pflaster dergleichen auszutauschen und neue Parkbuchten anzulegen. Es ist auch keine breite Straße. Kein großes Ding also, würde man meinen. Trotzdem braucht die Stadt drei Jahre dafür – oder vielleicht sogar noch länger, denn bisher ist noch nicht einmal die Hälfte der Straße geschafft. Rechnet man die benötigte Zeit auf die Länge der Straße um, schaffen die Bauarbeiter einen Meter pro Tag. « Jetzt wundert mich auch nicht mehr, warum ich die Straße am Hauptbahnhof noch nie ohne Baustellenschilder gesehen habe. Die ist doch auch eine Dauerbaustelle », fügt meine Freundin hinzu, sichtlich amüsiert, endlich auch einmal eine Schwachstelle in dem angeblich perfekten Land namens Deutschland gefunden zu haben. « Na ja, dort bauen sie ja auch eine ganz neue Straßenbahn », versuche ich die Lage etwas zu rechtfertigen, obwohl ich ihr insgeheim eigentlich recht gebe. Was hat es auf sich mit uns Deutschen und den Großbaustellen? In Berlin will der neue Hauptstadtflughafen einfach nicht fertig werden. Ganz zu schweigen von den Kosten. Außerdem soll ein Lückenschluss im Berliner U- Bahn-Netz mit lächerlichen drei Stationen fast zehn Jahre in Anspruch nehmen. Zehn Jahre! Man mache sich das einmal richtig deutlich. Zehn Jahre Baustelle auf einem der wichtigsten Boulevards der Stadt, eine Hauptsehenswürdigkeit des Landes. Zehn Jahre lang müssen sich die Touristen aus aller Welt durch das Bauchaos den Weg suchen und den Baulärm ertragen. In der Zeit werden in China ganze Städte aus dem Erdboden hochgezogen, mit einem kompletten U-Bahnnetz und nicht nur mit drei Stationen. Aber nicht nur die deutsche Hauptstadt scheint das Bauen verlernt zu haben. Egal ob im Süden der Republik, man nehme nur das Beispiel von Stuttgart 21, oder im Norden, etwa die Elbphilharmonie in Hamburg, die anstatt ursprünglich 77 Millionen inzwischen 575 Millionen Euro kostet – es gab sogar schon Zeitungsberichte, in denen von einer Endsumme von einer Milliarde Euro die Rede war – und 2017 anstatt 2010 fertig werden soll. Egal wo man im Land hinschaut, geht es um Großbauprojekte, scheint der Wurm drin zu sein. Eine Bauverzögerung jagt die nächste, eine Kostenexplosion die andere. « Hat Eure große Boulevardzeitung neulich nicht getitelt: Wird Frankreich das neue Griechenland? », fragt mich meine Freundin. Ich merke, dass sie nun Blut geleckt hat. « Wenn ich mir die Baustellen hier so anschaue, würde ich ja fast fragen wollen, wer denn nun mehr Griechenland ähnelt? Also in Bordeaux haben wir es geschafft, in ein paar Jahren die ganze Innenstadt zu sanieren, ein ganz neues Straßenbahnnetz aufzubauen, die Ufer der Garonne zu sanieren, ... » « Ja », unterbreche ich sie, « ich weiß das alles. Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich damals, als in Bordeaux das ganze Zentrum auf den Kopf gestellt wurde, nach Hamburg fuhr. Dort feierte man sich gerade für die Sanierung des Jungfernstiegs und tat so, als ob das Neugestalten von ein paar Metern Boulevard eine Meisterleistung wäre. Ich weiß sehr gut, was Du meinst. » In der Tat, ich wusste damals schon nicht, ob ich lieber weinen oder herzhaft lachen sollte, als sich die Lokalpolitiker und Medien für den neuen Jungfernstieg begeisterten. Dabei kam es dann sogar noch schlimmer: Denn schon kurz nachdem die Feierlichkeiten beendet waren, wurde ein Teil des Ufers der Binnenalster wieder aufgebuddelt. Die Verantwortlichen hatten wohl vergessen, dass sie noch eine U-Bahn in die neue Hafencity bauen wollten. In Frankreich wiederum könnte man neben Bordeaux viele andere Städte nennen, die sich in nur wenigen Jahren grunderneuert haben. In der Zeit, wo wir ein paar Meter Straße sanieren, werden dort ganze Stadtviertel erneuert. Ganz zu schweigen von dem Boom der Straßenbahn. Ich will nicht wissen, wie viele Straßenbahnkilometer in Frankreich in den letzten Jahren verlegt wurden. Ruck zuck ging das jeweils. « Eigentlich finde ich das ja ganz schön, dass bei Euch auch mal etwas nicht klappt », meint meine Freundin schließlich, als wir uns zwischen Bauabsperrungen über einen durchmatschten Fußgängerweg, auf dem seit fast einem halben Jahr wegen der Bauarbeiten die Platten fehlen, zu meiner Haustür durchkämpfen. « Das macht Euch menschlich! » « Tja, vielleicht sollten wir Merkel den Tipp geben, von dieser Seite der Deutschen zu erzählen, wenn in Südeuropa mal wieder Anti-Deutschland-Plakate in die Luft gehalten werden », erwidere ich leicht zynisch. « Mit ein bisschen Glück kannst Du nächstes Jahr, wenn Du zu meinem Geburtstag kommst, über einen neuen Bürgersteig spazieren. » Meine Freundin lächelt. « Na ja, spätestens übernächstes Jahr », füge ich grinsend hinzu. Frankreich erleben · <strong>Mai</strong> / <strong>Juni</strong> <strong>2013</strong> · 95