Nr. 45 - Mai / Juni 2013
Côte d'Azur: Grasse, der Duft einer Hauptstadt Lothingen: Saint-Louis / Arzviller: ein Fahrstuhl für Schiffe Camping: Frankreichs außergewöhnliche Campingplätze Normandie: Heimat des Impressionismus Loire-Mündung: zwischen Nantes und Saint-Nazaire, Kunst am Fluss Pyrenäen: le Train Jaune, ein Zug als Wahrzeichen Interview: Patricia Kaas Rezept: Fondant au chocolat au cœur de framboises Wein: die Kunst der Karaffierens und Dekantierens Genuss: die AOC der Pays de la Loire
Côte d'Azur: Grasse, der Duft einer Hauptstadt
Lothingen: Saint-Louis / Arzviller: ein Fahrstuhl für Schiffe
Camping: Frankreichs außergewöhnliche Campingplätze
Normandie: Heimat des Impressionismus
Loire-Mündung: zwischen Nantes und Saint-Nazaire, Kunst am Fluss
Pyrenäen: le Train Jaune, ein Zug als Wahrzeichen
Interview: Patricia Kaas
Rezept: Fondant au chocolat au cœur de framboises
Wein: die Kunst der Karaffierens und Dekantierens
Genuss: die AOC der Pays de la Loire
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Sag’ mal, standen die Bauabsperrungen vor Eurem<br />
Haus nicht schon hier, als ich letztes Jahr zu Deinem<br />
« Geburtstag gekommen bin? », fragt mich meine gute<br />
Freundin aus Bordeaux, als ich sie gerade vom Bahnhof<br />
abhole. Es ist bei uns Tradition, dass wir uns mindestens<br />
einmal im Jahr sehen, oft zum Geburtstag. « Ja, das stimmt.<br />
Die erneuern doch unsere Straße », antworte ich. « Aber<br />
wurde damit nicht schon vor zwei Jahren begonnen? », hakt<br />
mein Besuch ungläubig nach. « Ja, richtig », kann ich nur<br />
zustimmen. Doch meine Freundin scheint unverändert irritiert<br />
zu sein: « Das heißt, die buddeln hier schon seit zwei<br />
Jahren und sind immer noch nicht fertig? » Mir bleibt nur<br />
noch ein mitleidiges Nicken übrig.<br />
Wie soll man auch erklären, dass die Sanierung einer<br />
gerade einmal einen Kilometer langen Straße schon zwei<br />
Jahre in Anspruch nimmt und nach neuesten Informationen<br />
noch mindestens ein weiteres Jahr dauern soll? Dabei<br />
ist es noch nicht einmal ein riesiger Umbau. Die Fahrbahn<br />
in der Mitte und die dort liegenden Straßenbahnschienen<br />
werden nicht angefasst. Es geht lediglich darum, ein paar<br />
Rohre und Leitungen unter den Bürgersteigen zu erneuern,<br />
das Pflaster dergleichen auszutauschen und neue<br />
Parkbuchten anzulegen. Es ist auch keine breite Straße.<br />
Kein großes Ding also, würde man meinen. Trotzdem<br />
braucht die Stadt drei Jahre dafür – oder vielleicht sogar<br />
noch länger, denn bisher ist noch nicht einmal die Hälfte<br />
der Straße geschafft. Rechnet man die benötigte Zeit auf<br />
die Länge der Straße um, schaffen die Bauarbeiter einen<br />
Meter pro Tag.<br />
« Jetzt wundert mich auch nicht mehr, warum ich die<br />
Straße am Hauptbahnhof noch nie ohne Baustellenschilder<br />
gesehen habe. Die ist doch auch eine Dauerbaustelle »,<br />
fügt meine Freundin hinzu, sichtlich amüsiert, endlich<br />
auch einmal eine Schwachstelle in dem angeblich perfekten<br />
Land namens Deutschland gefunden zu haben. « Na<br />
ja, dort bauen sie ja auch eine ganz neue Straßenbahn »,<br />
versuche ich die Lage etwas zu rechtfertigen, obwohl ich<br />
ihr insgeheim eigentlich recht gebe.<br />
Was hat es auf sich mit uns Deutschen und den Großbaustellen?<br />
In Berlin will der neue Hauptstadtflughafen<br />
einfach nicht fertig werden. Ganz zu schweigen von den<br />
Kosten. Außerdem soll ein Lückenschluss im Berliner U-<br />
Bahn-Netz mit lächerlichen drei Stationen fast zehn Jahre<br />
in Anspruch nehmen. Zehn Jahre! Man mache sich das<br />
einmal richtig deutlich. Zehn Jahre Baustelle auf einem<br />
der wichtigsten Boulevards der Stadt, eine Hauptsehenswürdigkeit<br />
des Landes. Zehn Jahre lang müssen sich die<br />
Touristen aus aller Welt durch das Bauchaos den Weg<br />
suchen und den Baulärm ertragen. In der Zeit werden<br />
in China ganze Städte aus dem Erdboden hochgezogen,<br />
mit einem kompletten U-Bahnnetz und nicht nur mit drei<br />
Stationen.<br />
Aber nicht nur die deutsche Hauptstadt scheint das<br />
Bauen verlernt zu haben. Egal ob im Süden der Republik,<br />
man nehme nur das Beispiel von Stuttgart 21, oder<br />
im Norden, etwa die Elbphilharmonie in Hamburg, die<br />
anstatt ursprünglich 77 Millionen inzwischen 575 Millionen<br />
Euro kostet – es gab sogar schon Zeitungsberichte,<br />
in denen von einer Endsumme von einer Milliarde<br />
Euro die Rede war – und 2017 anstatt 2010 fertig werden<br />
soll. Egal wo man im Land hinschaut, geht es um<br />
Großbauprojekte, scheint der Wurm drin zu sein. Eine<br />
Bauverzögerung jagt die nächste, eine Kostenexplosion<br />
die andere.<br />
« Hat Eure große Boulevardzeitung neulich nicht getitelt:<br />
Wird Frankreich das neue Griechenland? », fragt<br />
mich meine Freundin. Ich merke, dass sie nun Blut geleckt<br />
hat. « Wenn ich mir die Baustellen hier so anschaue, würde<br />
ich ja fast fragen wollen, wer denn nun mehr Griechenland<br />
ähnelt? Also in Bordeaux haben wir es geschafft, in<br />
ein paar Jahren die ganze Innenstadt zu sanieren, ein ganz<br />
neues Straßenbahnnetz aufzubauen, die Ufer der Garonne<br />
zu sanieren, ... »<br />
« Ja », unterbreche ich sie, « ich weiß das alles. Ich<br />
erinnere mich noch sehr gut, als ich damals, als in Bordeaux<br />
das ganze Zentrum auf den Kopf gestellt wurde,<br />
nach Hamburg fuhr. Dort feierte man sich gerade für<br />
die Sanierung des Jungfernstiegs und tat so, als ob das<br />
Neugestalten von ein paar Metern Boulevard eine Meisterleistung<br />
wäre. Ich weiß sehr gut, was Du meinst. »<br />
In der Tat, ich wusste damals schon nicht, ob ich lieber<br />
weinen oder herzhaft lachen sollte, als sich die Lokalpolitiker<br />
und Medien für den neuen Jungfernstieg begeisterten.<br />
Dabei kam es dann sogar noch schlimmer: Denn<br />
schon kurz nachdem die Feierlichkeiten beendet waren,<br />
wurde ein Teil des Ufers der Binnenalster wieder aufgebuddelt.<br />
Die Verantwortlichen hatten wohl vergessen,<br />
dass sie noch eine U-Bahn in die neue Hafencity bauen<br />
wollten.<br />
In Frankreich wiederum könnte man neben Bordeaux<br />
viele andere Städte nennen, die sich in nur wenigen Jahren<br />
grunderneuert haben. In der Zeit, wo wir ein paar Meter<br />
Straße sanieren, werden dort ganze Stadtviertel erneuert.<br />
Ganz zu schweigen von dem Boom der Straßenbahn.<br />
Ich will nicht wissen, wie viele Straßenbahnkilometer in<br />
Frankreich in den letzten Jahren verlegt wurden. Ruck<br />
zuck ging das jeweils.<br />
« Eigentlich finde ich das ja ganz schön, dass bei Euch<br />
auch mal etwas nicht klappt », meint meine Freundin<br />
schließlich, als wir uns zwischen Bauabsperrungen über<br />
einen durchmatschten Fußgängerweg, auf dem seit fast<br />
einem halben Jahr wegen der Bauarbeiten die Platten fehlen,<br />
zu meiner Haustür durchkämpfen. « Das macht Euch<br />
menschlich! »<br />
« Tja, vielleicht sollten wir Merkel den Tipp geben,<br />
von dieser Seite der Deutschen zu erzählen, wenn in Südeuropa<br />
mal wieder Anti-Deutschland-Plakate in die Luft<br />
gehalten werden », erwidere ich leicht zynisch. « Mit ein<br />
bisschen Glück kannst Du nächstes Jahr, wenn Du zu<br />
meinem Geburtstag kommst, über einen neuen Bürgersteig<br />
spazieren. » Meine Freundin lächelt. « Na ja, spätestens<br />
übernächstes Jahr », füge ich grinsend hinzu.<br />
Frankreich erleben · <strong>Mai</strong> / <strong>Juni</strong> <strong>2013</strong> · 95