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CRESCENDO 5/18 September-Oktober 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

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K Ü N S T L E R<br />

ORGELREVOLUTION<br />

Iveta Apkalna war die erste Orgelstudentin in Lettland nach dem Zerfall der<br />

streng atheistischen Sowjetunion. Heute bringt sie regelmäßig das Instrument in der<br />

Hamburger Elbphilharmonie zum Erbeben.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

rescendo: Perfekte Frisur, Etuikleid, Designerhandtasche<br />

… Wenn ich Sie ansehe, verstehe ich, dass sogar<br />

die Modezeitschrift Vogue über Sie geschrieben hat. Über eine<br />

Organistin! Für Puristen muss das an ein Sakrileg gegrenzt<br />

haben.<br />

Iveta Apkalna: Aber dem Instrument hat es genützt! Seit einigen<br />

Jahren erlebt die Orgel eine richtige Revolution. Früher sagten die<br />

großen Festivals regelmäßig, Orgelkonzerte sind nicht rentabel.<br />

Inzwischen nehmen sie sie ins Programm. Und ich hoffe, dass ich<br />

dazu beigetragen habe.<br />

Wie kam das?<br />

Ich habe immer an einen bestimmten Stil geglaubt und für ihn<br />

gekämpft. Meine Programme wurden oft zensiert. Poulencs<br />

Orgelkonzert und Saint-Saëns’ Orgelsinfonie, das kennen die Leute.<br />

Ich liebe beide Werke sehr, aber es gibt so viel mehr fantastische<br />

Orgelmusik.<br />

Crossover? Blockbuster-Filmmusik?<br />

Das wäre nicht ich. Nur wenn ich mir treu bleibe, kann ich auch<br />

das Publikum erreichen. Die Authentizität ist entscheidend.<br />

Die Authentizität liegt in der Programmwahl?<br />

Genau. Man muss nicht alles von der Renaissance bis in die<br />

Gegenwart spielen. Bei Signierstunden rede ich mit den Leuten<br />

und frage sie, was ihnen gefallen hat und was nicht. Das bestärkt<br />

mich in meiner Erkenntnis: Es geht darum, das eigene Repertoire<br />

zu finden. Ein Recital soll eine Geschichte erzählen. Danach suche<br />

ich bei jedem Konzert, auch als Hörerin, und natürlich auch bei<br />

meinen CD-Einspielungen.<br />

Im <strong>September</strong> erscheint Ihr Album „Light and Dark“, die erste<br />

Orgel-Soloaufnahme aus der Elbphilharmonie. Sie haben dafür<br />

fast nur Werke zeitgenössischer oder wenig bekannter Komponisten<br />

gewählt, ähnlich wie bei Ihrem Debüt als Titularorganistin<br />

des Hauses. Nun ist es ja eine Sache, so ein Programm live zu<br />

erleben, aber eine ganz andere, es zu Hause aufzulegen.<br />

Da ist mir nicht bange. Ich denke an diejenigen, die die Orgel<br />

hören wollen und noch nicht in der Elbphilharmonie waren.<br />

Außerdem ist das Publikum viel klüger und weniger konservativ,<br />

als manche Veranstalter meinen. Gerade ältere Leute sagen mir oft,<br />

dass ihnen das Zeitgenössische am besten gefallen hat.<br />

Ohne Sendungsbewusstsein geht es wohl nicht. Wie kamen Sie<br />

überhaupt dazu, Orgel zu spielen?<br />

Das kann man nicht planen. Es liegt mir im Blut. Meine Mutter ist<br />

Pianistin, mein Großvater und Urgroßvater waren Musiklehrer und<br />

Organisten. Aber das wusste ich als Kind nicht. Man hat es mir nicht<br />

erzählt, damit ich es nicht ausplaudere. Orgel hatte ja mit Kirche zu<br />

tun, und Lettland war ein sowjetisches Land, Atheismus war vom<br />

Staat verordnet. Wer zum Gottesdienst ging, machte sich verdächtig.<br />

Dann konnten Sie vor der Wende nicht Orgel lernen?<br />

Nein, aber gleich danach. Die Musikschule in meiner Heimatstadt<br />

Rezekne hat die erste Orgelklasse in Lettland eingerichtet. Ich war<br />

die erste Orgelstudentin.<br />

Sie hätten doch auch einfach mit Klavier weitermachen können.<br />

Mir hat beim Klavier das Körperliche gefehlt. Als Kind wollte ich<br />

Tänzerin werden. Oder Eiskunstläuferin. Das habe ich immer<br />

geliebt, ich habe manchmal die Schule geschwänzt, um zum<br />

Schlittschuhlaufen zu gehen. Ich machte immerzu Luftsprünge und<br />

Drehungen!<br />

Sie haben als 16-Jährige bei dem Gottesdienst gespielt, den Papst<br />

Johannes Paul II. in Lettland besuchte. Seither waren Sie immer<br />

wieder Pionierin: 2005 haben Sie als erste Organistin den ECHO<br />

Klassik als „Instrumentalistin des Jahres“ gewonnen. Und nun<br />

sind Sie Titularorganistin der Elbphilharmonie. Das klingt fast<br />

wie Bundespräsidentin. Wie geht es Ihnen mit dem Amt?<br />

Es ist immer noch ein Hochgefühl, als wären wir noch in der<br />

Eröffnungsphase. Diese Festlichkeit ergreift mich jedes Mal, wenn<br />

ich herkomme.<br />

Wie läuft das praktisch, haben Sie einen Schlüssel für die<br />

Elbphilharmonie?<br />

Überhaupt nicht! Es ist nicht einfach, da das Haus sehr stark<br />

ausgelastet ist. Meine Übezeiten bekomme ich zugeteilt. Für mein<br />

Konzert im November kann ich am 22. August von 23 bis 3 Uhr<br />

morgens üben.<br />

Nehmen Sie jemanden mit, der den Klang abhört?<br />

Das mache ich immer allein. Das ist Erfahrungssache, da muss<br />

man auch mal scheitern. Es hat viel mit Klangvorstellung zu tun.<br />

Man hört sich selbst ja viel weniger als ein Streicher oder Bläser. In<br />

der Elbphilharmonie ist die Orgel sehr hoch. Ich sitze ganz unten<br />

und weiß nicht genau, wie es in Etage 15 klingt.<br />

Was halten Sie von der viel diskutierten Akustik?<br />

Ich finde es gut, dass der Saal wenig Nachhall hat. 2,3 Sekunden<br />

Nachhallzeit, das ist perfekt. Die Musik verschwimmt nicht. Man<br />

muss halt sehr gut vorbereitet sein.<br />

Für so einen riesigen Saal braucht es ein großes Klangvolumen.<br />

Wird der Klang mit zunehmender Lautstärke nicht leicht hart?<br />

Seltsamerweise nicht. Dieses Instrument entwickelt eine Wärme,<br />

die man im ganzen Körper spürt.<br />

Ist Ihnen die Orgel der Elbphilharmonie stilistisch variabel genug?<br />

Sie kann einfach alles. Man fühlt sich wie ein Kind im Bonbonladen!<br />

Manche Organisten nehmen dann von allem, um den ganzen<br />

Reichtum in einer halben Stunde zu zeigen. Da<br />

wird dem Publikum irgendwann schlecht. Alle<br />

Register ziehen, das mache ich nie!<br />

■<br />

Schostakowitsch, Gubaidulina u. a.: „Light & Dark“, Iveta Apkalna<br />

(Berlin Classics)<br />

<strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>

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