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CRESCENDO 5/18 September-Oktober 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

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C<br />

rescendo: Man sagt: „Essen hält Leib und Seele<br />

zusammen.“ Brauchen Sie außer Ihrer Lieblingspasta<br />

täglich auch eine Portion Bach?<br />

Martin Stadtfeld: Irgendwie schon. Meine Beziehung zu Bachs<br />

Musik war schon ganz früh besonders innig. Mein Klavierlehrer<br />

Hubertus Weimer und ich haben im Unterricht auf die Fugen<br />

immer ganz simple Texte gedichtet,<br />

die mir sie als Kind sofort vertraut<br />

und menschlich gemacht haben.<br />

Zum Beispiel für die Fuge in Cis-<br />

Dur: „Jetzt kann ich endlich in Cis-<br />

Dur komponier’n, hurra, hurra!“ Es<br />

fängt also einer an und freut sich<br />

darüber, dass man durch die wohltemperierte<br />

Stimmung nun auch in<br />

Cis-Dur komponieren kann, und<br />

dann steigt einer nach dem anderen<br />

ein und freut sich mit ihm. So hat<br />

mir mein Lehrer Bach beigebracht!<br />

Was genau hat den kleinen Martin<br />

Stadtfeld an Bachs Klangwelt so<br />

in den Bann gezogen?<br />

Als ich Hubertus Weimer zum ersten<br />

Mal das C-Dur-Präludium von<br />

Bach vorgespielt habe, hat er gesagt<br />

„Komm, hör mal auf zu spielen, hör<br />

einfach mal zu.“ Dann hat er mir<br />

das Stück nicht mit gebrochenen<br />

Akkorden vorgespielt, sondern hat<br />

sie immer komplett angeschlagen.<br />

Diese Spannungen, die da zu hören<br />

waren, haben mich sofort total fasziniert<br />

– sie sind für mich der Inbegriff<br />

von Musik. Wenn man über<br />

seine Kindheit nachdenkt, realisiert<br />

man manchmal, dass man die<br />

Dinge heutzutage ganz anders sieht<br />

als damals. Aber Musik ist für mich<br />

nach wie vor ein Spannungsfeld<br />

von Harmonien. Einer meiner Lieblingssätze stammt von<br />

Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“<br />

Seit ein paar Jahren nehmen Sie vor allem die späten Kompositionen<br />

von Johann Sebastian Bach unter die Lupe. Was entdecken<br />

Sie darin?<br />

Durch meine Auseinandersetzung mit Bachs Spätwerk habe ich<br />

noch mal einen ganz neuen Blick auf seine Musik gewonnen, denn<br />

seine späten Stücke sind sehr speziell. Die Goldberg-Variationen<br />

sind sozusagen der Eintritt in sein Spätwerk. Das ist ein sehr populäres<br />

Stück und für jeden noch gut nachvollziehbar. Die späteren<br />

Werke sind dann eher in der Kontemplation entstanden. Da war es<br />

ihm völlig egal, was man über ihn dachte. In dem Zustand der inneren<br />

Einsamkeit in den letzten Lebensjahren kam Bach in einen<br />

Zustand, in dem der Wunsch nach Anerkennung komplett von ihm<br />

abgefallen ist.<br />

In welchen Werken ist das für Sie besonders deutlich zu spüren?<br />

Das Musikalische Opfer ist zum Beispiel bis heute ein ziemlich unbeliebtes<br />

Werk. Ich habe es kürzlich mal im Konzert gespielt, und es<br />

„DAS LEBEN WIRD VORWÄRTS GELEBT<br />

UND RÜCKWÄRTS VERSTANDEN“, IST<br />

MEIN LIEBLINGSSATZ VON KIERKEGAARD<br />

hat ganz irritierte Reaktionen ausgelöst. Manche Leute haben gesagt:<br />

„Das ist doch kein Bach!“ – als hätte ich mit der Musik irgendetwas<br />

angestellt. Sie ist sehr komplex, diese Klangwelt, mit den kompliziertesten<br />

Kanons. Die Musik ist esoterisch und romantisch und fasziniert<br />

mich sehr, ist aber total schwer zu vermitteln. So kam ich auf<br />

meine Ideen, für das neue Album eigene Kanons zu schreiben, die<br />

ich in Bachs Zyklus eingeflochten<br />

habe.<br />

Wie war es, das Projekt, an dem<br />

Sie so lange intensiv gefeilt<br />

haben, einzuspielen?<br />

Die zwei Wochen vor Aufnahmebeginn<br />

sind schrecklich. Da schlafe<br />

ich total schlecht und träume nur<br />

noch davon und mache mir tausend<br />

Gedanken, eine furchtbare<br />

Zeit. Aber wenn man dann mit<br />

dem bewährten Team zusammen<br />

ist und anfängt zu arbeiten, ist alles<br />

super. Es ist so wichtig, dass man<br />

sich gut kennt und dass man sich<br />

wohlfühlt und loslässt. Früher<br />

habe ich immer gedacht, ich muss<br />

eine Aufnahme schaffen und dann<br />

kann ich danach mit mir zufrieden<br />

sein. Mittlerweile habe ich verstanden,<br />

dass es darum geht, währenddessen<br />

glücklich und mit sich im<br />

Einklang zu sein. Was dann danach<br />

mit der Aufnahme passiert und ob<br />

sie jemandem gefällt, ist völlig egal.<br />

Sie komponieren nicht nur eigene<br />

„Improvisationen“ und Kadenzen,<br />

sondern spielen auch in einer<br />

eigenen Stimmung. Wie klingt die<br />

Stadtfeld-Stimmung?<br />

Ich habe mich vorher viel mit historischen<br />

Stimmungen beschäftigt<br />

und daraus eine eigene Stimmung<br />

entwickelt, die nur drei veränderte Töne hat. Das macht aber sehr<br />

viel aus, weil man dadurch drei reinere Grundharmonien bekommt<br />

– und das hat immer einen doppelten Einfluss: Es gibt eine Harmonie,<br />

die durch die Veränderung reiner wird, und eine, die dadurch<br />

spannungsgeladener und schwebender wird. So bringt man viele<br />

neue Farben ins Spiel.<br />

Machen Sie das immer selbst, oder lassen Sie stimmen?<br />

Ich treffe die Stimmer immer vor dem Konzert und stimme das Instrument<br />

mit ihnen gemeinsam, damit sie wissen, warum sie machen<br />

sollen, worum ich sie bitte. Das ist oft ein sehr schöner Prozess. Als<br />

Pianist schmort man sowieso viel im eigenen Saft und hat wenig mit<br />

anderen zu tun. Deshalb empfinde ich es auch als große Bereicherung,<br />

unterwegs immer wieder neue Instrumente kennenzulernen.<br />

Durch jedes Instrument lerne ich etwas Neues,<br />

manchmal nur durch ein paar Töne. Und plötzlich<br />

denke ich: „Diese Stelle habe ich noch nie so<br />

wahrgenommen.“ <br />

■<br />

„Homage to Bach“, Martin Stadtfeld (Sony)<br />

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