L E B E N S A R T 3 1 2 4 5 8 6 7 9 FOTOS: KADI-LIIS KOPPEL / TALLINN CITY TOURIST OFFICE & CONVENTION BUREAU (3); KAUPO KALDA; MARIA GOETH 1) Schloss Katharinenburg aus der Zeit des russischen Kaiserreichs 2) Marktfrau vor dem Restaurant Olde Hansa 3) Postkartenmotiv im Hafen 4) Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert 5) Alexander-Newski-Kathedrale 6) Souvenir, Souvenir: traditionelle estnische Strickwaren 7) UNESCO Weltkulturerbe: Talliner Rathausplatz mit gotischem Rathaus 8) Kulinarisches Estland 9) So bunt wie das Land: mittelalterliches Gassengewirr 94 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>
EIN SPANNENDER SCHMELZTIEGEL UNTERSCHIEDLICHER KULTUREN! Tallinn Tõnu Kaljuste, Chorleiter und Dirigent, wohnt Tür an Tür mit Arvo Pärt in der Hauptstadt Estlands. Er mag vor allem ihren unabhängigen Geist. Eine Liebeserklärung an eine bunte Stadt. VON MARIA GOETH FOTO: KAUPO KIKKAS / ECM RECORDS Steigt man in Estlands Hauptstadt Tallinn aus dem Flugzeug, katapultiert einen allein schon die Sprache der Ortsansässigen in eine fesselnde neue Welt, die den rauen, aber sympathischen, fremdartigen, aber behaglichen Soundtrack für die Reise bilden wird: Diese bis ins Unendliche rollenden „Rrrrrrr“s, diese unfassbaren Anhäufungen von Vokalen und Umlauten! Da lockt Werbung etwa zur „maniküür“ oder mit „köögimööbel“ zum Kauf von Küchenmobiliar, bevor man mit „väljapääs“ den Ausgang erreicht. Aber es geht noch besser: „Jääär“ steht für einen Gletscherrand, „kuuüür“ für die Monatsmiete. Schon nach kurzer Zeit – in diesem kleinen baltischen Staat scheint alles irgendwie kleiner, nahbarer, atmosphärischer – erreicht man die Innenstadt. Sie wirkt wie eine begehbare Pralinenschachtel! Verspielte, pastellfarbene Häuschen und mittelalterliche Kaufmannsresidenzen säumen das Labyrinth aus verwinkelten, kopfsteingepflasterten Gassen, über denen unzählige gut erhaltene Türme und Gemäuer aus dem 14. und 15. Jahrhundert thronen. Doch gleich neben den historischen Prachtvierteln der ehemals blühenden Hansestadt findet sich hochmoderne europäische Architekturkunst ebenso wie die ruinenhaften Baurelikte des Sozialismus – Zeugen der Sowjetbesatzung zwischen 1940 und 1991 –, die ihren ganz eigenen, morbiden Charme entfalten. Dieser Mix Fruchtbare Freundschaft: Dirigent Tõnu Kaljuste mit dem Komponisten Arvo Pärt kann symbolisch für vieles in Tallinn und ganz Estland stehen: Hier mengen sich Einflüsse seiner dänischen, schwedischen, russischen und auch deutschen Besatzer – und dennoch, oder gerade deshalb, spürt man allerorts die unglaublich starke estnische Identität. In der Nähe des Raekoja plats, der schon seit dem 11. Jahrhundert als Markt diente und von einem 64 Meter hohen, original erhaltenen gotischen Rathaus überragt wird, treffe ich Tõnu Kaljuste, den gefeierten Chorleiter und Dirigenten, der vor allem durch seine großartigen Einspielungen der Werke von Arvo Pärt internationale Berühmtheit erlangte. Tatsächlich prägte ihn der wohl berühmteste estnische Komponist schon während seiner Studienzeit: „Damals wurde ich stark von zwei Komponisten inspiriert: Veljo Tormis und Arvo Pärt“, erinnert sich Kaljuste. „Tormis ist in unserer uralten estnischen Volksmusik verwurzelt, besonders den baltischfinnischen Runen-Liedern. Er verleiht auf sehr pure Weise dieser vergessenen, vorchristlich-schamanischen Kultur eine Stimme. Pärt hingegen schafft unter Verwendung kirchlicher Texte unglaublich spirituelle Musik. Das sind zwei ganz verschiedene Aspekte der estnischen Kultur, an denen ich mich orientierte.“ Heute leben Tõnu Kaljuste und Pärt in Tallinn Tür an Tür und pflegen eine herzliche Freundschaft. Da ist es kein Wunder, dass Kaljuste am 13. <strong>Oktober</strong> auch die Eröffnung des nigelnagelneuen 95