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CRESCENDO 5/18 September-Oktober 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

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M E I N U N G<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

NEIN ZUM ZICKENALARM!<br />

Selbstverliebte Superstars und prekäre Arbeitsverhältnisse an den Stadttheatern<br />

– es läuft etwas schief in der Welt der Klassik! Ein Kommentar zur Zweiklassengesellschaft –<br />

und einem falschen Grundgedanken.<br />

Irgendwas läuft falsch in dieser wunderschönen, aufgeregten und<br />

zum Teil sehr mit sich selbst beschäftigten Welt der klassischen<br />

Musik. Zum einen ganz oben, dort, wo atemberaubende Gagen<br />

gezahlt und Klassikkünstler als Götter verehrt werden, zum andern<br />

ganz unten, an den deutschen Stadttheatern, wo die Finanzlage prekär<br />

ist. Die Kluft zwischen Superstars, die zuweilen nicht mehr zu<br />

wissen scheinen, wer ihr Publikum ist und wer ihre Gagen bezahlt,<br />

und dem täglichen Überlebenskampf der Theater in den Städten<br />

ist kaum noch zu verstehen. Was beide Extreme eint, ist der schleichende<br />

Realitätsverlust, kein Verständnis dafür, dass einem Großteil<br />

der Menschen die Klassikbranche weitgehend egal ist und dass alte<br />

Privilegien endgültig auf den Prüfstand gehören.<br />

Noch vor wenigen Jahren<br />

haben es viele Klassikkünstler als<br />

Auftrag verstanden, genau jene<br />

Menschen als neues Publikum<br />

zu gewinnen, die noch nicht mit<br />

dem Klassikvirus infiziert waren.<br />

Wir sahen Musiker, die ihre Kunst<br />

erklärten, sie zu den Menschen<br />

brachten, wir erlebten, wie Stadttheater<br />

ihre Türen öffneten, sich<br />

der Debatte stellten und in sozialen Netzwerken aus ihrer eigenen<br />

Blase treten wollten. Inzwischen hat sich das verändert. Dabei hat<br />

sich das Grundproblem eher verschärft: Viele Menschen glauben,<br />

dass ein Leben ohne klassische Musik durchaus auch ein Leben<br />

sein kann. Das Feuilleton berichtet kaum noch über Premieren und<br />

Konzerte, stellt kaum noch Klassikkünstler vor. Und auch im Fernsehen<br />

wird hart um jede Klassiksendung gerungen. Jede Opernaufführung<br />

oder Musik-Doku muss sich vor dem Tatort, Polit-Reportagen<br />

oder Spielshows legitimieren.<br />

Mit der Klassik-Berichterstattung verhält es sich inzwischen<br />

so wie mit der in den sozialen Netzwerken: Sie hat sich in die Blase<br />

der Fachpresse verabschiedet und kreist dort hauptsächlich um<br />

sich selbst. Umso nötiger wäre es, dass Intendanten, Künstler und<br />

Journalisten wieder das hochhalten, worum es in der Musik geht:<br />

Menschlichkeit, Fairness und Respekt.<br />

Aber besonders die großen Klassikstars scheinen von ihrer allgemeinen<br />

Bedeutungslosigkeit nur wenig mitzubekommen. Wie<br />

DEN GRÖSSTEN TEIL DER<br />

WELTBEVÖL KERUNG<br />

INTERESSIEREN UNSERE KLASSIK-STARS<br />

EINFACH NICHT. DESHALB WÄRE MEHR<br />

DEMUT ANGEBRACHT<br />

auch? Sie werden für horrende Gagen durch die ganze Welt geflogen,<br />

übernachten in Luxushotels, davor stehen eine Handvoll Groupies,<br />

die sie bejubeln, und auch am Ende einer Vorstellung hören<br />

sie nichts als Applaus. Rote Teppiche, wohin sie gehen! Gleichzeitig<br />

merken sie, dass so ziemlich alle ihre Forderungen von Intendanten<br />

oder Konzertveranstaltern erfüllt werden: vietnamesische Kokosmilch<br />

in der Garderobe? Kein Problem! Nur Fünf-Sterne-Hotels<br />

ohne Teppichboden? Natürlich, Maestro! Keine Interviews mit der<br />

lokalen Presse? Klar, das wäre ja unter ihrer Würde! Die Unterwäsche<br />

soll vor der Vorstellung noch schnell gewaschen werden (gibt<br />

es wirklich!)? Sicher doch! Ja, es gibt sogar Künstler, die ernsthaft<br />

erwägen, nur noch am Nachmittag aufzutreten, weil sie nicht wissen,<br />

was sie bis zum Abend einer<br />

Aufführung tun sollen. Liebe Leute,<br />

bei aller Verehrung: Geht’s noch?<br />

Sicher, es wäre falsch, alle<br />

Klassikstars über einen Kamm zu<br />

scheren. Aber die wachsende Exaltiertheit<br />

bei gleichzeitigem Verschwinden<br />

der breiten Aufmerksamkeit<br />

ist schon frappierend. Zum<br />

Teil kommt einem diese Welt wie<br />

ein verzogenes Kind vor. Begründet wird alles damit, dass Künstler<br />

Hochleistungssportler seien, sich auf ihre Auftritte fokussieren<br />

müssen, dass ihnen nichts zugemutet werden könne, was den<br />

Abend gefährdet. Viele Veranstalter reagieren mit vorauseilendem<br />

Gehorsam, oft bis zur Selbstaufopferung, um alle noch so absurden<br />

Wünsche zu erfüllen. Die Solisten scheinen Götter zu sein, und deshalb<br />

wird jeder Auftritt zum Gottesdienst. Warum, verdammt, ist es<br />

aus der Mode gekommen, den modernen Diven und Divos einfach<br />

mal zu sagen: „Nein, dann eben nicht!“?<br />

Kaum ein Hochleistungssportler wird umgarnt wie unsere<br />

Klassikkünstler. Leichtathleten oder Kanuten bei Olympischen<br />

Spielen waschen ihre Klamotten sehr wohl selbst, wohnen im olympischen<br />

Dorf und wissen, dass sie Werbefiguren für ihren Sport sind.<br />

Okay, im Fußball mag das anders sein. Aber auch, wenn das Diventum<br />

hier ebenso nervt, ist es Fakt, dass die meisten Profi-Kicker das<br />

Geld, das sie verdienen, auch wieder einspielen. Allein die Trikots,<br />

die mit den Namen Neymar oder Ronaldo verkauft werden, zei­<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

86 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>

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