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CRESCENDO 5/18 September-Oktober 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

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Zum Cover seines neuen Albums<br />

wurde Julian Prégardien von<br />

Gustave Courbets Selbstporträt<br />

Der Verzweifelte inspiriert<br />

Weit aufgerissene Augen, die Haare zerzaust, ein verzweifelter,<br />

irrsinnig intensiver, fast schon wahnsinniger<br />

Blick, die eigenen Hände halten den Kopf fest: Das Bild auf dem<br />

Cover des neuen Albums von Tenor Julian Prégardien irritiert,<br />

verstört. Vielleicht genauso wie Hans Zenders Bearbeitung des<br />

Liederzyklus Die Winterreise von Franz Schubert, die Prégardien<br />

zusammen mit der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken<br />

Kaiserslautern eingespielt hat.<br />

„Es gibt ein Vorbild für dieses Cover“, verrät der 34-Jährige im<br />

Interview: „Das Bild Der Verzweifelte von Gustave Courbet. Dieses<br />

Bild hat etwas davon, wie ich mir den Winterreisenden vorstelle.“<br />

Entstanden ist das Motiv ganz spontan beim Fotoshooting für das<br />

Cover und dennoch sagt es mehr aus, als manch tiefschürfende<br />

Analyse: „Wenn man verstört auf dieses Bild reagiert, dann hat es<br />

eine Wirkung, die auch Franz Schuberts Musik haben kann. Früher<br />

wirkte diese pure, nur von einem Hammerklavier begleitete Musik<br />

vielleicht genauso irritierend wie die Zender-Fassung heute.“<br />

2015 hat Prégardien die Winterreise mit fast 31 Jahren zum<br />

ersten Mal öffentlich gesungen, zweifellos ein Wagnis: „Dass jüngere<br />

Sänger, zumal Tenöre, sich mit der Winterreise präsentieren,<br />

ist eher selten“, zumal man für dieses Werk eine gewisse Lebensreife<br />

mitbringen müsse, „um das auch intellektuell zu durchleuchten.<br />

Wenn ein junger Mann mit einigermaßen naiver, nicht zu<br />

kammersängerartiger Stimme das singt, dann finde ich die Fallhöhe<br />

sehr, sehr hoch. Es geht um eine gewisse Wahrhaftigkeit und<br />

Glaubwürdigkeit dessen, was da auf der Bühne passiert.“<br />

Und mit der „komponierten Interpretation“, wie Hans Zender<br />

seine Fassung betitelt, wird diese Fallhöhe sicher nicht geringer.<br />

Prégardien findet sie epochal, doch dem Publikum und gerade dem<br />

Sänger verlangt sie einiges ab. „Ich stehe 80 Minuten allein auf der<br />

Bühne.“ Eigentlich sei die Winterreise ja kein dramatisches Werk, so<br />

Prégardien, aber seine Interpretation zehre von dieser Erfahrung<br />

mit Zenders Version bis heute. Im Vorfeld hatte er sich auch andere<br />

szenische Versionen angeschaut und kam zum Fazit: „Die Winterreise<br />

verträgt einiges.“<br />

Das muss sie bei Zender auch, denn mit der heilen Kunstlied-<br />

Idylle, wie sie vielfach zelebriert wird, hat sie in seiner Fassung<br />

nicht mehr viel zu tun. „Man kann sich das vorstellen, als würde<br />

der Klaviersatz Schuberts durch ein Prisma geschickt und aufgespalten<br />

in einzelne, artikulatorische, melodische und semantische<br />

Bestandteile. Es ist ein sehr experimentelles Werk. Manchmal<br />

klingt es nach einem einfachen Arrangement, manchmal klingt es<br />

wie Musik des 21. Jahrhunderts. Die Gesangsstimme bleibt dabei<br />

fast gleich wie bei Schubert, es gibt nur wenige klangliche Verfremdungen.“<br />

Hinzu kommt bei Zender die szenische Komponente, die auf<br />

dem Album zwar nicht sichtbar ist, für Prégardien bei seiner Interpretation<br />

aber immer mitschwingt: „Ich glaube, dass das Liedrepertoire<br />

wie kein anderes Repertoire das Potenzial hat, die Menschen<br />

durch direkte Emotionalität zu berühren.“ Prégardien will<br />

das erfahrbar machen, „auch für ein Publikum, das nicht intellektuell<br />

vorgeprägt ist. Es soll keine intellektuelle Leistung sein, von<br />

etwas berührt zu werden, nur weil man weiß, dass es einen berühren<br />

muss.“ Das Vorurteil gegenüber der Gattung, dass Liedgesang<br />

aufgrund komplizierter Texte und komplizierter Musik eben gleich<br />

doppelt unzugänglich sei, lässt er nicht gelten: „Ich glaube, dass<br />

Schubert es schafft, Lyrik auf eine Art in Musik zu übersetzen, die<br />

berührt, auch ohne dass man das Versmaß oder die Andeutungen<br />

im Text nachvollziehen muss. Durch die Musik wird die Lyrik<br />

schon in gewisser Weise interpretiert, und zwar so, dass sie verständlicher<br />

wird.“<br />

Für Prégardien ist das eine Lebensaufgabe, eine, die ihre Wurzeln<br />

in den ersten Erfahrungen als Sänger hat. „Ohne die Limburger<br />

Domsingknaben gäbe es in der Familie Prégardien keine Sänger.<br />

Und auch ohne den Kammerchor Stuttgart wäre ich heute nicht der<br />

Sänger, der ich bin. Neben der familiären Disposition ist er der<br />

Nährboden, auf dem meine Karriere gewachsen ist.“ Deshalb engagiert<br />

er sich auch für den musikalischen Nachwuchs. Im Gedenken<br />

an seinen verstorbenen Großvater hat er an vier Limburger Kindergärten<br />

das Projekt „Canto elementar“ ins Leben gerufen: Senioren<br />

gehen dorthin und singen Volkslieder. Ziel ist, dass Musik „wieder<br />

Teil des Alltags wird, aber nicht nur Musik, auch ganz allgemein die<br />

schönen Künste“.<br />

Denen widmet sich Prégardien, der seit einiger Zeit auch als<br />

Professor an der Münchner Musikhochschule lehrt, mit ganzer<br />

Kraft. Allein in der Zeit vor der Aufnahme hat Prégardien die<br />

Winterreise innerhalb von drei Monaten 15 Mal gesungen – in<br />

verschiedensten Besetzungen: mit Hammerklavier und Spezialisten<br />

für historische Aufführungspraxis, mit einer Koryphäe wie<br />

Gerhard Oppitz, mit einem Gitarrenduo, in einer Bearbeitung für<br />

Bläserquintett und Akkordeon – und außerdem an ganz verschiedenen<br />

Orten: vom Wohnzimmer über die Hotellobby bis zum<br />

Kirchenraum. Für den Tenor war das eine spannende und bereichernde<br />

Erfahrung. „Ich hoffe, dass das Stück mich bis zum Ende<br />

begleitet.“ <br />

■<br />

Hans Zender: „Schuberts Winterreise“, Julian Prégardien,<br />

Deutsche Radio Philharmonie, Robert Reimer (Alpha).<br />

Das Album erscheint am 5.10.20<strong>18</strong><br />

Track 6 auf der crescendo Abo-CD: Die Wetterfahne<br />

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