OM_12_2022_ePaper
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Die Landschaft mit ihren feuchten<br />
Gründen, ihren Wiesen und Pflanzen, ihren<br />
Wasserzonen und dem weiten Himmel –<br />
diese durch und durch norddeutsche<br />
Landschaft, sie ist Bühne und Bühnenbild<br />
zugleich. Und die Hauptdarsteller, keine<br />
Frage, die Stars – das sind die Kraniche.<br />
Und die haben durchaus so ihre Allüren.<br />
Lärm zum Beispiel mögen sie wegen ihres<br />
empfindsamen Gehörs nicht, das<br />
Publikum soll schon eine gewisse Ruhe<br />
bewahren; wie im Theater eben. Schon auf<br />
dem Weg zur Schanze sind wir über schallschluckende<br />
Rindenmulchpfade gegangen;<br />
der Mensch soll an diesem Ort möglichst<br />
wenig auf sich aufmerksam machen.<br />
Manchmal aber lassen sie sich trotz aller<br />
Vorsicht einfach nicht blicken, die Stars,<br />
obwohl sie eigentlich noch Saison haben<br />
und damit eben: ihre Auftritte an der<br />
Kranichschanze. Aber dann lassen sie ihr<br />
Publikum halt warten. Es lohnt sich also,<br />
Zeit und Geduld mitzubringen.<br />
Wenn das Spektakel dann beginnt, wird<br />
das Kranich-Publikum reich belohnt!<br />
Die schönen Flugbewegungen der wilden<br />
Vögel, dazu die an Trompetenklänge<br />
erinnernden Rufe! Sie sind weithin hörbar<br />
und verstärken das Naturschauspiel im<br />
Moor um eine eindrucksvolle akustische<br />
Komponente. Fotografieren dürfen wir die<br />
Kraniche natürlich, allerdings nur ohne<br />
Blitzlicht. „Es verunsichert Kraniche sehr“,<br />
heißt es auf einer Infotafel. Wie gesagt: Die<br />
Vögel sind sensibel.<br />
Und aus diesem Grund sind sie auch<br />
sehr, sehr vorsichtig – besonders, wenn es<br />
darum geht, die Schlaf- und Rastplätze zu<br />
schützen. „Die Wachposten der Kraniche<br />
entdecken Sie frühzeitig“, informiert der<br />
Naturschutzbund (NABU) auf einem<br />
Schild. „Es sei denn, Sie sind schlauer als<br />
der schlaue Kranich.“<br />
Folglich gelte es, gewisse Hinweise zu beachten.<br />
Zum Beispiel: „Vermeiden Sie auffällige<br />
Kleidung.“ Sprich: Unsere leuchtende<br />
Warnweste bleibt zu Haus. Zudem wird<br />
einmal mehr dringend empfohlen, auf den<br />
ausgeschilderten Wegen zu bleiben.<br />
Ganz schön imposant wirken sie trotz<br />
aller Scheu, die grauen Grazien der Lüfte:<br />
Kraniche werden etwa 1,20 bis 1,50 Meter<br />
groß, ihre Flügelspannweite erreicht bis zu<br />
2,20 Meter. Größe gepaart mit Eleganz –<br />
das hat seit Menschengedenken die Dichter<br />
auf den Plan gerufen. Bertolt Brecht zum<br />
Beispiel setzte fliegende Kraniche in seinem<br />
Gedicht „Die Liebenden“ als Sinnbild für<br />
die Liebe ein, nicht mehr und nicht<br />
weniger: „Seht jene Kraniche in großem<br />
Bogen! / Die Wolken, welche ihnen beigegeben<br />
/ Zogen mit ihnen schon, als sie<br />
entflogen / Aus einem Leben in ein anderes<br />
Leben.“<br />
Während wir von der Kranichschanze<br />
auf die weite Moorlandschaft blicken,<br />
lassen wir unsere Gedanken fliegen. In der<br />
griechischen Mythologie gilt der Kranich<br />
als Vogel des Glücks, als Symbol der<br />
Wachsamkeit und Klugheit. Den Römern<br />
galt der Kranich als Symbol des klugen,<br />
Kraniche werden etwa<br />
1,20 bis 1,50 Meter<br />
groß, ihre Flügelspannweite<br />
erreicht<br />
bis zu 2,20 Meter.<br />
vernünftigen und sorgfältigen Handelns.<br />
In der Heraldik ist er das Symbol der<br />
Vorsicht und der schlaflosen Wachsamkeit.<br />
Und in der modernen Markenwelt ein<br />
Sinnbild technologischer Verlässlichkeit<br />
und Ausdauer – nicht ohne Grund ist der<br />
fliegende Kranich seit bald 100 Jahren das<br />
unverwechselbare Zeichen der Lufthansa.<br />
Apropos Flugbewegungen … die<br />
Kraniche, die bei uns in der Welt des<br />
Teufelsmoors Rast machen, sie kommen<br />
aus Skandinavien und dem Baltikum. Mit<br />
Eicheln und Mais, Insekten und Mäusen,<br />
Fischen und Fröschen stärken sie sich in<br />
der Landschaft rund um die Kranichschanze<br />
für ihre Reise in den Süden, denn<br />
überwintern werden die Kraniche beispielsweise<br />
in Spanien, in Andalusien etwa<br />
und in der Extremadura. Manche Kraniche<br />
ziehen noch weiter und erreichen Nordafrika.<br />
Im Frühjahr kehren sie wieder<br />
zurück. Früher erreichten die Kraniche die<br />
Brutgebiete Mitteleuropas im März, heute<br />
zuweilen schon im Februar – womöglich<br />
lässt auch hier der Klimawandel grüßen.<br />
Es wurden sogar schon Überwinterungsversuche<br />
der grazilen Zugvögel beobachtet,<br />
heißt es.<br />
Mehrheitlich aber machen sie sich nach<br />
wie vor auf den Weg vom Moor des Nordens<br />
in die Sonne des Südens. Eine glückliche<br />
Reise wünschen wir ihnen, während wir<br />
ihrem eleganten Spektakel zusehen von<br />
unserer Sitzbank im Naturtheatersaal der<br />
Kranichschanze. Wir aber bleiben hier und<br />
warten auf das Frühjahr, wenn sie zu uns<br />
zurückkehren, die Kraniche. Text: Claudia Kuzaj<br />
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