Hohe Schule» für Lehrer - Johannes Beck
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Ich will Dir erzählen<br />
Lieber Jean-Jacques, verehrter Herr Vater,<br />
lebend wolltest Du mich nicht, also mußte ich Dich überleben. Und jetzt<br />
bekommst Du Post von mir ins Grab. Du Verwunderkind der Aufklärung,<br />
die Du an mir vorüberziehen ließest.<br />
Um es vorweg zu sagen, ich fand es geschmacklos, unelegant und Deiner<br />
Maßlosigkeit unwürdig, daß Du mich und meine vier Geschwister in'<br />
das Findelhaus gesteckt hast. Dich anschließend in den Garten dieser<br />
Gräfin zurückzogst, um Dein Superbuch «Emile - Über die Erziehung»<br />
zu verfassen.<br />
«Seelenpein» habe Dir unser unfreiwilliger, aber von Dir inszenierter<br />
Abgang gemacht, hast Du am Ende Deines Lebens bekannt. Geschenkt.<br />
Mir jedenfalls hat es nicht nur Seelenpein verursacht, sondern noch eine<br />
ganz andere Pein. Glaube mir, mein Stottern war nicht nur peinlich, ich<br />
habe es in Angst gelernt. Anstrengend war es, das wieder zu verlernen.<br />
Mit acht Jahren war ich schon halb tot vom Arbeiten in der Manufaktur.<br />
Kräftig sollte ich werden, meintest Du.<br />
Aber reden wir nicht mehr davon, die Sache ist schon so lange her.<br />
, Heute würdest Du sicher auch alles ganz anders machen. Die Erbschaft<br />
hätte ich eh verweigert, die Du mir hättest machen können. Ich mußte sie<br />
sowieso mit meiner Hände Arbeit schaffen.<br />
Was ich gemacht habe, umaus dem Findelhaus rauszukommen, erzähle<br />
ich Dir hier nicht, sondern den Heimkindern in Rikas Oase einige Seiten<br />
später. Du kannst es ja dort nachlesen. Schließlich schreibe ich diese Briefe<br />
alle <strong>für</strong> Dich. Ich will Dir mit ihnen übrigens keine neue Seelenpein<br />
verursachen, sondern Dir nur erzählen, wie aus Deiner «Entdeckung der<br />
,Kindheit» eine «Eroberung der Kinder» durch alle möglichen pädagogischen<br />
Provinzspezialisten wurde, die sich leider auch auf Dich berufen.'<br />
Ich will Dir auch sagen, was alles kaputtgemacht worden ist, seit Deine<br />
Bürgernachkommen in unseren Regionen das Sagen haben. Aber ich will<br />
Dir auch erzählen, welche Hoffnungen und Wünsche die Leute haben<br />
und wie sie versuchen, trotz der Zerstörungen irgendwie zu leben. Wie oft<br />
habe ich mir gewünscht, daß DuDich im Grabe umdrehenwürdest wegen<br />
der Lobhudelei und Scheinheiligkeit, mit der man die übelsten Menschenfreundlichkeiten<br />
in Deinem Namen heiligt. Aber Du drehtest Dich<br />
nicht um im Grabe. Maßlos, wie immer, bist Du gleich auferstanden.<br />
Nicht einmal. Zweimal. Die intelligenteren unter den Bürgern haben<br />
Dich wohl verstanden, selbst in der Romantik und dann auch beim Suchen<br />
nach blauen Blumen in der sogenannten Jugendbewegung. In der<br />
noch immer dunklen Sehnsucht nach Natur und Unmittelbarkeit. Danach<br />
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