Munich School of Management Magazine 2011/12 - Fakultät für ...
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Forschung<br />
Vom Egoismus zu sozialen Präferenzen<br />
– Ein wegweisender Wandel<br />
in fundamentalen Annahmen der<br />
betriebswirtschaftlichen Entscheidungslehre<br />
Die Betriebswirtschaftslehre gehört im weitesten Sinne zu den<br />
Sozialwissenschaften. Sie befasst sich u.a. mit menschlichen Entscheidungen,<br />
die zwar beobachtbar, aber nicht einfach formal zu<br />
beschreiben sind. Abstraktionen von der Realität sind erforderlich.<br />
Seit den wegweisenden, axiomatisch begründeten Arbeiten<br />
der Autoren von Neumann und Morgenstern (1944) prägten die<br />
Rationalitäts- und Egoismusannahme über Jahrzehnte sämtliche<br />
entscheidungs- und spieltheoretische Modelle. Beide Annahmen<br />
sind nicht realistisch. Rationalität beinhaltet z.B., dass zwei Gegner<br />
im Schach von Beginn ihrer Partie ab alle optimalen Züge<br />
vom ersten bis zum letzten kennen und umsetzen können. Bis<br />
heute sind aber selbst Großrechner nicht dazu in der Lage, das<br />
Spiel Schach optimal zu lösen. Dennoch hat sich die Rationalitätsannahme<br />
weitgehend als zweckmäßig erwiesen.<br />
Die Egoismusannahme hingegen wird zunehmend in Frage<br />
gestellt – zum einen, weil intuitiv nicht klar ist, dass sich alle<br />
Menschen ausschließlich und in allen Situationen eigennützig<br />
verhalten. Zum anderen, weil vielen Menschen nicht besonders<br />
wohl bei dem Gedanken ist, dass die gesamte Betriebswirtschaftslehre<br />
einen wesentlichen Teil ihrer Erkenntnisse auf einer entsprechenden<br />
Annahme aufbaut. Am Ende wird sie noch über die<br />
Ausbildung in den Universitäten und die Gesetzmäßigkeiten der<br />
freien Marktwirtschaft zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung.<br />
Vor diesem Hintergrund begannen mehrere Wissenschaftler<br />
die Annahme des Egoismus bei gleichzeitiger Beibehaltung<br />
der Rationalitätshypothese einer Überprüfung zu unterziehen.<br />
Seit den 90er Jahren ist aus ersten Bemühungen einer der fruchtbarsten<br />
Forschungszweige in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre<br />
geworden. Die experimentelle<br />
Wirtschaftsforschung<br />
hat einen starken Aufschwung<br />
genommen und diese vormals<br />
nicht allzu anerkannte Methode<br />
zählt mittlerweile zum wissenschaftlichen<br />
Standard bei der<br />
Erforschung menschlichen Entscheidungsverhaltens.Inzwischen<br />
ist klar, dass die Annahme<br />
<strong>12</strong> | LMU – <strong>Munich</strong> <strong>School</strong> <strong>of</strong> <strong>Management</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
des Egoismus zwar Erklärungsgehalt hat, aber nicht ausreicht,<br />
um die Vielfalt menschlichen Verhaltens zu erklären. Vor allem<br />
soziale Präferenzen, bei denen Menschen nicht nur die Auswirkung<br />
des Handelns auf das eigene Wohlergehen, sondern auch<br />
auf das Wohlergehen anderer in ihr Kalkül mit einbeziehen, besitzen<br />
eine hohe Relevanz. Neben universellen gesellschaftlichen<br />
Prinzipien wie Reziprozität, kommen auch Altruismus oder der<br />
Ungleichheitsaversion eine hohe Bedeutung zu. Die Auswirkung<br />
unterschiedlicher Präferenzen auf betriebswirtschaftliche Entscheidungen<br />
und Fragestellungen wird immer mehr erforscht.<br />
Möglich ist es insbesondere auch erstmalig, mit formal exakten<br />
Methoden Probleme der Gruppenzusammensetzung näher zu<br />
analysieren. Zum Teil zeigen sich dabei äußerst interessante und<br />
auf den ersten Blick verblüffende Erkenntnisse – beispielsweise,<br />
dass in der Wahrnehmung positive belegte Präferenzen wie Altruismus<br />
nicht zwingend positive Wirkungen auf die Effektivität<br />
von Gruppen haben. Stattdessen gibt es Argumente da<strong>für</strong>, dass<br />
Gruppen aus unterschiedlichen Präferenztypen bessere Ergebnisse<br />
erzielen. Einsichten wie diese bilden eine neue Grundlage<br />
<strong>für</strong> empirische und experimentelle Untersuchungen. Durch die<br />
Vielzahl von Forschungsarbeiten werden dadurch völlig neue<br />
Perspektiven in einem bereits seit langem etablierten Fach wie<br />
der Betriebswirtschaftslehre ermöglicht. Außerdem lässt sich die<br />
Behauptung, dass die BWL eine rein am Eigennutz orientierte<br />
Disziplin der Sozialwissenschaften sei, so inzwischen nicht mehr<br />
aufrechterhalten. Nicht wenige sprechen im Zusammenhang mit<br />
der Öffnung der Wirtschaftswissenschaften <strong>für</strong> verhaltenswissenschaftliche<br />
Erkenntnisse, wobei die Entdeckung und Erforschung<br />
von sozialen Präferenzen lediglich einen Teilbereich ausmacht,<br />
von einer Revolution - und es bleibt abzuwarten, wann<br />
der erste Nobelpreis an einen wegweisenden Wissenschaftler mit<br />
dieser Spezialisierung vergeben wird. Pr<strong>of</strong>. Kai Sandner<br />
Literatur:<br />
Camerer, Colin F. (2003): Behavioral Game Theory:<br />
Experiments in Strategic Interaction, Princeton University Press.<br />
Brunner, Markus und Sandner, Kai (20<strong>12</strong>): Social Comparison,<br />
Group Composition, and Incentive Provision, forthcoming in: International<br />
Journal <strong>of</strong> Game Theory<br />
Küpper, Hans-Ulrich und Sandner,<br />
Kai (<strong>2011</strong>): Anreizsysteme und<br />
Unternehmens ethik, in: Zeitschrift <strong>für</strong><br />
Betriebswirtschaft (ZfB),<br />
Sonderheft 1-<strong>2011</strong>: Unternehmensethik<br />
in Forschung und Lehre,<br />
hrsg. v.: Küpper, Hans-Ulrich und<br />
Schreck, Philipp, S. 119-148