Sebastian Kurtenbach
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Die europäischen Städte erlebten keine internationale, sondern zuvordererst eine nationale<br />
Zuwanderung (vgl. Häußermann/Siebel 2004, S. 20). So unterscheidet sich zum einen das<br />
Ausmaß und zum anderen auf den ersten Blick die internationale Herausforderung, vor denen<br />
Städte standen und stehen (vgl. Strohmeier 2007, S. 246). Bei der Betrachtung der Situation im<br />
industriellen Zeitalter sind die Beschreibungen von Engels über die Lage der Arbeiter in England<br />
ein eindrucksvolles Zeugnis über solche Ankunftsgebiete. Zwar berichtet er in erster Linie über<br />
die mangelnden Hygieneverhältnisse und den niedrigen Wohnstandard, doch wird aus seinen<br />
Beschreibungen ebenfalls deutlich, dass die dort ansässige Bevölkerung u.a. dadurch<br />
gekennzeichnet ist, dass sie diesen Ort schnellstmöglich wieder verlassen möchte (vgl. Engels<br />
1954, S. 91ff.). Daraus lässt sich schließen, dass solche Arbeiterquartiere der damaligen Zeit<br />
bereits von Fluktuation und Dynamik gekennzeichnet waren. Auch gab es zum Teil erhebliche<br />
Bevölkerungsbewegungen zwischen Stadt und Land, z.B. in der Erntezeit (vgl.<br />
Häußermann/Siebel 2004, S. 22) 19. Somit benötigten ärmere Einwohner Wohnraum, der leicht<br />
zu bekommen, billig und austauschbar war. Sie strebten aber zugleich nach Wohnraum in<br />
„besseren“ Gegenden oder auch wieder zurück in ländlichere Gebiete (vgl. Häußermann/Siebel<br />
2004, S. 22).<br />
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und im weiteren Verlauf, mit Einschränkungen<br />
bezüglich der beiden Weltkriege, änderte sich dies für kurze Zeit. Durch wirtschaftliches<br />
Wachstum und soziale Sicherheit, die einer betrieblichen Sozialpolitik zu verdanken war, kam es<br />
zur Spezialisierung städtischer Teilgebiete. Aufgrund dessen ließen sich Arbeiter in eigenen<br />
Arbeitergebieten nieder und die Austauschbeziehung mit den Migrationsquellgebieten kam zum<br />
Erliegen. In dieser Zeit entstand eine städtische Arbeiterklasse. Dadurch kam es in den<br />
Arbeiterquartieren der Großindustrie weder zu sozialer noch zu räumlicher Mobilität (vgl.<br />
Ulrich 1985, S. 233ff.). Diese Quartiere entwickelten, bedingt durch soziale Homogenität und<br />
zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen, eigene feste soziale Netzwerke (vgl. Mackensen et<br />
al.1959, S. 223f.). Solche sozial homogenen Gebiete finden sich in (deutschen) Großstädten in<br />
dieser Form nicht mehr. Statt Gebieten mit derartig festen sozialen Strukturen gibt es, zumeist<br />
sogar in den gleichen städtischen Teilgebieten wie damals, Ankunftsorte. Zwar ist auch dort ein<br />
erhebliches Maß an Solidarität und Hilfeleistung zu beobachten, dieses ist aber primär an<br />
ethnische und nicht an soziale Zugehörigkeit gebunden (vgl. Ceylan 2006, S. 51). Dort leben die<br />
meisten Zuwanderer und die Ärmsten der Stadtgesellschaft. Zuwanderer ziehen tendenziell als<br />
19 Solche Bevölkerungsbewegungen, die auf landwirtschaftliche Gründe zurückzuführen sind, finden sich auch heute<br />
noch z.B. in Indien. Dazu weiterführend LZpB BW 2009. Neben solchen gibt es periodische Wanderungsbewegungen<br />
zu kulturellen Anlässen, was in China zu den chinesischen Neujahrsfeiertagen zu beobachten ist, die einen erheblichen<br />
Bevölkerungsaustausch zwischen Stadt und Land mit sich bringen, weil zu diesem Anlass kurzzeitig alle Menschen in<br />
ihre Heimatregionen wandern. Dazu weiterführend Kissinger 2011 oder auch Heberer/Rudolph 2010.<br />
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