Friedemann Richert Der endlose Weg der Utopie - Augustana ...

leben können. Aber welch einen Sinn soll dieses Leben dann haben? Popper gerät mit
seiner Sinnstiftungsthese in einen unendlichen Regreß, seine Antwort ist eine Tautologie.
Popper kann lediglich eine Rahmenbedingung formulieren, in der bestenfalls die
Sinnfrage nicht auftaucht. "Die Frage nach dem Lebenssinn setzt zunächst Individualismus
voraus, hochentwickeltes Ichgefühl und Selbstbewußtsein, das absehen kann von
der Bergung des Ich im Kollektiv, in Großfamilie, Sippe und Stamm, das allein unter
dem individuellen Aspekt das Leben betrachtet; sodann setzt die Frage nach dem Lebenssinn
die Erfahrung von Sinnlosigkeit, Sinnfremdheit, Fehlen des Sinns voraus. Sinn
ist immer im Selbstverständlichen verborgen, und erst wenn das verloren geht, in der
Erfahrung der Sinnlosigkeit, taucht die Frage nach dem Sinn auf; und Sinnfindung ist
immer erst die Überwindung von Sinnlosigkeit." 1659 Genau das aber leistet Poppers
offene Gesellschaft nicht, einmal wegen Poppers regressiv-tautologischer Ausrichtung
in diesem Zusammenhang, zum anderen aber wegen der menschlichen Unzulänglichkeiten,
wegen des menschlichen Irrationalismus und wegen der Potentialität des Menschen
zum Bösen hin. Zwar rechnet Popper durchaus mit der Fehlsamkeit des Menschen,
weswegen Popper sein Programm mit der sozialen Stückwerktechnik auf den Weg
bringen, damit also dem Emergenzgeschehen von Gesellschaftsentwicklung Rechnung
tragen will. Ist doch nach Poppers Definition die soziale Stückwerktechnik in der Lage,
menschlich bedingte Fehlentwicklungen im gesellschaftspolitischen Bereich korrigierend
aufzunehmen. Aber Poppers Ansatz ist aufgrund seiner anthropozentrischen Fundierung
und Ausrichtung nur bedingt tauglich, gerade den auftauchenden Ambivalenzen
menschlichen Lebens, die in der Frage der Sinnfindung kulminieren, umfassend Rechnung
zu tragen. Ist es doch einer reinen Anthropozentrik nicht möglich, die Fragen des
Erlebens von Irrationalität, der Dimension des Bösen und dem Problem des Todes ohne
tautologischen Regreß sinnstiftend zu beantworten. Theologisch gesprochen unterschlägt
Popper den Gedanken von der Sündhaftigkeit des Menschen in seiner Radikalität.
Nun ist Popper gegenüber zuzugestehen, daß er mit seiner sozialen Stückwerktechnik
- theologisch gesprochen - einem reduzierten Sündenbegriff im Sinne von menschlichen
Irrungen und Wirrungen Rechnung trägt, aber dennoch muß sich Popper fragen
lassen, ob er nicht die Radikalität des theologischen Topos der Sünde unterschlägt.
Denn dieser setzt voraus, daß der Mensch an sich nicht via Vernunft die Unvollkommenheiten
dieser Welt und des menschlichen Lebens in seiner Ambivalenz wird überwinden
können und daß eine Sinnstiftung nur in metaphysischer Rückbindung zu gewinnen
ist. Darum ist Popper gegenüber festzuhalten, daß der Mensch auch der Geschichte
keinen Sinn zu geben vermag, dies zu erwarten, ist schlicht eine anthropologische
Überforderung. 1660
1659Gese, Studien, 170f.
1660 Aus dieser Perspektive gesehen, tut sich eine Differenz zwischen Poppers Anthropozentrik
und der eschatologischen Sichtweise in Deutlichkeit auf: Während Popper dem Menschen sinn-
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