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DAMALS 123<br />
gewisse Ehrfurcht für die Wurzeln von Reggae, Funk o<strong>de</strong>r R‘n‘B - und<br />
im Rap gibt es Künstler wie The Cool Kids, die vom »Gol<strong>de</strong>nen Zeitalter<br />
<strong>de</strong>s HipHop« in <strong>de</strong>n späten 80ern inspiriert sind. Aber diese sind nicht<br />
erfolgreich. Es gibt kein HipHop-Äquivalent zu <strong>de</strong>n White Stripes o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Black Keys, <strong>de</strong>ren Erfolg auf <strong>de</strong>n »glorreichen Zeiten« eines Genres<br />
beruht, die schon zwei o<strong>de</strong>r drei Jahrzehnte vorbei sind.<br />
Inwieweit wer<strong>de</strong>n ausschließlich erfolgreiche Konzepte recycelt? Franz<br />
Ferdinand zum Beispiel klangen im Jahr 2004 mit ihrem Debütalbum<br />
wie die späten Talking Heads so um 1980 herum - aber nicht wie <strong>de</strong>ren<br />
experimentelle Frühphase in <strong>de</strong>n 70ern.<br />
Eine Menge Retro- o<strong>de</strong>r Revivalbands nehmen das Resultat eines Experiments<br />
und arbeiten damit weiter. Es wirkt fast so, als hätten sie die<br />
harte Arbeit, all das Reifen und die Kämpfe, die nötig waren, um etwas<br />
völlig Neues zu erschaffen, einfach übersprungen. Die Talking Heads<br />
dagegen machten mit je<strong>de</strong>m ihrer ersten vier Alben einen<br />
gewaltigen Sprung. Auf »Remain In Light« wirkt fast<br />
je<strong>de</strong>r Song wie die Zukunft von Musik. Eine Band<br />
könnte heute ihre Karriere auf nur einem<br />
einzigen dieser Stücke aufbauen. Mich<br />
beeindruckt es eher, wenn eine Band<br />
die I<strong>de</strong>e einer älteren Band verkörpert<br />
statt das spezifische Resultat<br />
dieser I<strong>de</strong>e. Vampire Weekend<br />
waren zum Beispiel eher eine<br />
Reproduktion <strong>de</strong>s Spirits <strong>de</strong>r<br />
Talking Heads, nicht ihres<br />
spezifischen Sounds.<br />
Welche Rolle spielen ökonomische<br />
Motive für die<br />
Vorherrschaft von Retro<br />
und Revival?<br />
Um Künstler zu einem<br />
Megastar zu machen,<br />
muss man viel Geld investieren.<br />
Das ist vermutlich<br />
<strong>de</strong>r Grund, warum die Majors<br />
in <strong>de</strong>r Regel ein bereits in<br />
<strong>de</strong>r Vergangenheit erfolgreiches<br />
Schema wie<strong>de</strong>rholen. Aber das<br />
eigentliche Mysterium ist, warum<br />
sich Bands, die im hippen Un<strong>de</strong>rground<br />
unterwegs sind, ebenfalls aus<br />
<strong>de</strong>r Vergangenheit bedienen. Eigentlich hat<br />
es sich gera<strong>de</strong> in diesem Bereich immer ausgezahlt,<br />
originell, weird o<strong>de</strong>r fremdartig zu sein, um<br />
später zur Kultband zu wer<strong>de</strong>n. Aber viele zeitgenössische<br />
Bands arbeiten wie Archivare, Kuratoren o<strong>de</strong>r Archäologen.<br />
In <strong>de</strong>r Regel müssen Bands heute mit Touren ihr Geld verdienen. Hat<br />
das einen Einfluss darauf, welche Elemente aus <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
wie<strong>de</strong>rkommen? Zu <strong>de</strong>n Bands <strong>de</strong>s Postpunk-Revivals konnte man<br />
eigentlich immer auch tanzen, was bei <strong>de</strong>n Vorläufern in <strong>de</strong>n 80ern<br />
eher selten <strong>de</strong>r Fall war.<br />
Das ist ein guter Punkt. Letztendlich wollen die Menschen halt doch<br />
eine Melodie hören und dazu tanzen. Das ist vermutlich auch <strong>de</strong>r Grund,<br />
warum es nicht viele Bands gibt, die von No Wave beeinflusst sind. Es<br />
existieren zwar mehrere Bücher darüber, aber keine Bands, die wie<br />
DNA o<strong>de</strong>r Mars klingen.<br />
Wie hat Musikjournalismus zu <strong>de</strong>n Phänomenen, die du beschreibst,<br />
beigetragen?<br />
Die Standards sind heute niedriger als früher. Journalisten sind nicht<br />
mehr so unnachgiebig gegenüber abgekupferter Musik. Vermutlich als<br />
Resultat eines graduellen Erosionsprozesses, <strong>de</strong>r selbstverständlich<br />
dadurch beför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, dass es Bands wie The White Stripes gab, die<br />
talentiert und unterhaltsam sind, obwohl sie <strong>de</strong>r Vergangenheit verhaftet<br />
bleiben. Für Ariel Pink‘s Haunted Graffiti wür<strong>de</strong> ich auch sofort eine<br />
The Hives<br />
Ausnahme machen. Aber <strong>de</strong>r Musikjournalismus ist zu einem großen Teil<br />
<strong>de</strong>generiert und in einen Modus verfallen, in <strong>de</strong>m nur noch Referenzen,<br />
Quellen und Einflüsse genannt wer<strong>de</strong>n. Aktuelle Musik verlangt zwar<br />
auch genau das. Aber diese Art <strong>de</strong>s Journalismus, von <strong>de</strong>r ich spreche,<br />
wirkt lustlos und führt zu einer andauern<strong>de</strong>n Metaisierung, durch die<br />
Musik nur noch von an<strong>de</strong>rer Musik anstatt von <strong>de</strong>r Welt da draußen<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Innenleben eines Künstlers han<strong>de</strong>lt.<br />
In <strong>de</strong>n 1990ern haben Jungle, Drum‘n‘Bass und Garage eine Alternative<br />
zum Sixties-Revival im Britpop gebil<strong>de</strong>t. Was ist mit dieser I<strong>de</strong>e von<br />
Zukunft in <strong>de</strong>n Nullerjahren passiert?<br />
In <strong>de</strong>n 90ern war »Future« o<strong>de</strong>r »Phuture« überall: in <strong>de</strong>n Pseudonymen<br />
von Producern, <strong>de</strong>n Namen von Tracks o<strong>de</strong>r Compilations. Vieles<br />
drehte sich um die I<strong>de</strong>e von Zukünftigkeit. Nach <strong>de</strong>m Motto: Diese<br />
Musik treibt vorwärts in unbekanntes Terrain, sie hat eine beson<strong>de</strong>re<br />
Beziehung zur Technologie. Und wenn Klang und Maschinen<br />
vereint sind, wer<strong>de</strong>n sie die Welt neu erschaffen. Diese<br />
I<strong>de</strong>en sind in <strong>de</strong>n Nullerjahren fast komplett<br />
aus <strong>de</strong>r Dancemusic verschwun<strong>de</strong>n. Falls<br />
sie auftauchen, dann in <strong>de</strong>r Regel als<br />
Retro-Futurismus - wie zum Beispiel<br />
bei Dopplereffekt und ihren<br />
verzücken<strong>de</strong>n Assoziationen<br />
von Technokratie und Sounds,<br />
die an Kraftwerk erinnern.<br />
Um das zu erklären, muss<br />
man die Geschwindigkeit,<br />
mit <strong>de</strong>r sich Dancemusic<br />
in <strong>de</strong>n späten 80ern und<br />
<strong>de</strong>m Großteil <strong>de</strong>r 90er<br />
verän<strong>de</strong>rte, betrachten.<br />
Sie beschleunigte sich, mutierte,<br />
bewegte sich in alle<br />
Richtungen, von <strong>de</strong>nen einige<br />
wie Gabba, Glitch o<strong>de</strong>r<br />
Drum‘n‘Bass sehr extrem<br />
waren. Im folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnt<br />
wur<strong>de</strong> das Terrain, das<br />
die Pioniere <strong>de</strong>r 90er erschlossen<br />
hatten, »kultiviert«. Und weil<br />
in <strong>de</strong>n 90ern viele I<strong>de</strong>en nur angerissen<br />
wer<strong>de</strong>n konnten, wirkt es auf<br />
heutige Producer verlockend, zu diesen<br />
I<strong>de</strong>en zurückzukehren und sie zu tweaken<br />
o<strong>de</strong>r Lücken zu schließen. Dies dürfte <strong>de</strong>r Grund<br />
sein, warum die Post-Dubstep-Szene aktuell House<br />
wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt - o<strong>de</strong>r ältere Phasen aus Drum‘n‘Bass und<br />
UK Garage aufgreift.<br />
Welche Musiker aus <strong>de</strong>m letzten Jahrzehnt sind nicht Teil <strong>de</strong>r »Retromania«?<br />
Im Rock wirkten beson<strong>de</strong>rs die frühen Gang Gang Dance innovativ<br />
und befremdlich auf mich. Und nicht zu vergessen Animal Collective.<br />
Diese Bands kennen die Musikgeschichte, aber nichts an ihrer Musik<br />
ist Retro. Statt<strong>de</strong>ssen haben sie eine Geisteshaltung, die Gang Gang<br />
Dance in einem Sample von ihrem neuen Album auf <strong>de</strong>n Punkt bringen:<br />
»I can hear everything. It‘s everything time.« Sie hören wirklich<br />
alles, egal, ob aus <strong>de</strong>r Vergangenheit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gegenwart - und zwar aus<br />
allen Regionen <strong>de</strong>r Welt. Und es gelingt ihnen, einen Weg durch diesen<br />
Schwall an Eindrücken zu schlagen. Das ist die Herausfor<strong>de</strong>rung von<br />
»Everything Time«: Aus <strong>de</strong>m Überfluss von Stimuli und Input etwas<br />
Kohärentes zu erschaffen.<br />
Interview: Christian Werthschulte<br />
— Eine längere Fassung dieses Gesprächs erscheint in <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n<br />
Ausgabe <strong>de</strong>r Testcard.<br />
— Simon Reynolds »Retromania – Pop culture's Addiction to its own past«<br />
(Faber & Faber, 496 Seiten, 20 Euro)