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058 HEUTE<br />
Kaputten und Ausgezehrten, nach <strong>de</strong>m auch die Musik von<br />
S.C.U.M klingt. Die Band erzählt, Daniel Miller, <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>r<br />
von Mute Records, habe es mit <strong>de</strong>r Angst o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st<br />
einem wohligen Gänsehautschauer zu tun bekommen, als<br />
er sie zum ersten Mal live erlebte.<br />
Dagegen wirken Samuel Kilcoyne und Bradley Baker,<br />
wenn man ihnen, umweht von Grillgeruch und sommerabendlicher<br />
Entspanntheit, in einem Berliner Biergarten<br />
gegenübersitzt, unerwartet fi<strong>de</strong>l. Wie »fucking great« es<br />
für sie wäre, gemeinsam mit an<strong>de</strong>ren Mute-Bands zum<br />
ersten Mal im Nightliner unterwegs zu sein, erzählen die<br />
für Synthesizer und Maschinenpark zuständigen S.C.U.M-<br />
Mitglie<strong>de</strong>r. O<strong>de</strong>r wie »insane« es gewesen sei, sich auf <strong>de</strong>n<br />
eigenen Auftritt vorzubereiten, während man von <strong>de</strong>r Bühne<br />
nebenan Erasure spielen hörte, wie im Mai beim von Mute<br />
veranstalteten Short Circuit Festival in London, mit <strong>de</strong>m<br />
die Plattenfirma ihre Wie<strong>de</strong>rauferstehung offiziell feierte,<br />
geschehen.<br />
Die Kontaktaufnahme mit <strong>de</strong>m Label begann schon<br />
vor Jahren, da waren S.C.U.M noch eine rein männliche<br />
Teenager-Band. <strong>Als</strong> die ersten Konzerte im Ausland anstan<strong>de</strong>n,<br />
nutzte man die Gelegenheit für Studiobesuche in<br />
Warschau, Berlin und Paris, bannte in wenigen Stun<strong>de</strong>n<br />
Momentaufnahmen auf Band und brachte sie digital unters<br />
Volk: als »Signals« statt als Singles. Das Rohe, Unfertige<br />
macht <strong>de</strong>n Reiz <strong>de</strong>r Reihe aus, vielleicht auch das Gefühl,<br />
womöglich etwas Großem bei seiner Entwicklung zusehen<br />
zu dürfen. Ähnlich beschreibt auch Daniel Miller seine Fan-<br />
Werdung: »S.C.U.M habe ich sehr früh gesehen. Sie waren<br />
zwar schon eine Band, hatten aber noch nicht wirklich<br />
Songs geschrieben, son<strong>de</strong>rn spielten eine Form von purem<br />
Krach. Ich habe in <strong>de</strong>n letzten 30 Jahren viele Bands gehört,<br />
die so was machen, es gibt verschie<strong>de</strong>ne Qualitäten von<br />
purem Krach. Aber das fand ich fantastisch. Es war ein sehr<br />
formloses Etwas, aber mit einer Unmenge an Potenzial.«<br />
1978 / 2011<br />
2011 dürfen S.C.U.M behaupten, eines <strong>de</strong>r ersten Signings<br />
<strong>de</strong>s altehrwürdigen Labels Mute Records zu sein. Absur<strong>de</strong>rweise<br />
stimmt das, obwohl <strong>de</strong>r heute 60-jährige Miller<br />
seine erste Platte (die 7-Inch »Warm Leatherette / T.V.O.D.«<br />
von The Normal) schon im Jahr 1978 veröffentlichte. Aber<br />
Daniel Miller hat Mute En<strong>de</strong> 2010 neu gegrün<strong>de</strong>t. Nach<br />
einer 2002 vollzogenen Integration in <strong>de</strong>n Major EMI ist<br />
Miller mit seinem einflussreichen Label erst seit ein paar<br />
Monaten wie<strong>de</strong>r Indie. Der Weg zurück in die Unabhängigkeit<br />
war steinig, aber Miller hatte nie gezweifelt, dass er ans<br />
gewünschte Ziel führen wür<strong>de</strong>: »Es war eine frustrieren<strong>de</strong><br />
Phase. Aber ich wusste, dass wir da durchmussten, um ans<br />
an<strong>de</strong>re En<strong>de</strong> zu gelangen.«<br />
Seine eigene Firma neu zu grün<strong>de</strong>n kann mit kuriosen<br />
Begleiterscheinungen einhergehen. So muss Miller <strong>de</strong>n<br />
Namen <strong>de</strong>r Marke, die er selbst erfun<strong>de</strong>n hat, heute von EMI<br />
lizenzieren, ebenso <strong>de</strong>n umfangreichen Katalog, <strong>de</strong>r ihm seit<br />
<strong>de</strong>m Zusammenschluss nicht mehr gehört. Vertriebs<strong>de</strong>als im<br />
Heimatland UK und in <strong>de</strong>n USA bin<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>n Neo-Indie<br />
Mute weiterhin an das seit Jahren schwerfällig havarieren<strong>de</strong><br />
Schiff EMI, das von einem Investment-Hafen zum nächsten<br />
weitergeschleppt wird. Der aktuelle Besitzer, die Citigroup,<br />
sucht gera<strong>de</strong> einen neuen Käufer.<br />
Die wie<strong>de</strong>rerlangte Freiheit sorgt aber auch für an<strong>de</strong>re<br />
erstaunliche Phänomene: Innerhalb kürzester Zeit wur<strong>de</strong>n<br />
auf Mute so viele neue Acts gesignt wie bis dahin in über 30<br />
Jahren nicht. Aufbruchstimmung eben. Allerdings bremst<br />
Miller die Begeisterung selbst und schiebt die neue Hyperaktivität<br />
vor allem auf die Rahmenbedingungen. Er habe<br />
eben immer weiter nach Acts gesucht, auch wenn er sich<br />
am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r EMI-Phase rund zwei Jahre lang wie gelähmt<br />
gefühlt habe und keine neuen Künstler vertraglich bin<strong>de</strong>n<br />
wollte. Das Lenkrad hatte Miller zwar nie ganz aus <strong>de</strong>r<br />
Hand gegeben (in »Warm Leatherette« reimte er »Feel the<br />
steering wheel« auf »Hear the crushing steel«), aber er fuhr<br />
huckepack auf einem größeren Truck mit, anfangs noch mit<br />
Begeisterung über die erhöhte Leistung, zunehmend aber<br />
außerstan<strong>de</strong>, selbst die Richtung mitzubestimmen. »EMI<br />
wollte Mute, weil sie sich etwas an<strong>de</strong>res innerhalb ihrer Firma<br />
wünschten, eine Gruppe von Personen, die Dinge an<strong>de</strong>rs<br />
anging als <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>s EMI-Mainstreams. Das fühlte sich<br />
gut an. Aber mit <strong>de</strong>m Verstreichen <strong>de</strong>r Zeit wur<strong>de</strong> verlangt,<br />
dass wir mehr und mehr wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re beliebige EMI-<br />
Marke sein sollten. Das hätte Mute nie sein können. Daher<br />
ist das jetzt sehr befreiend, aufregend, nervenaufreibend.<br />
Wir bringen mehr Platten raus, als ich geplant hatte. Aber<br />
das ist okay. Es sind großartige Platten.«<br />
Eine davon ist »Again Into Eyes«, das Debütalbum von<br />
S.C.U.M. Samuel Kilcoyne entschuldigt sich, dass er sich<br />
bei <strong>de</strong>r Beschreibung von <strong>de</strong>ssen Sound so häufig mit Gebär<strong>de</strong>nsprache<br />
behelfe. Die explosionsartige Wucht, die er<br />
als Klangi<strong>de</strong>al im Kopf hat, vermag er mit Worten nicht<br />
einzufangen. <strong>Als</strong>o schleu<strong>de</strong>rt er die Arme von sich, hämmert<br />
sich gegen die Rippen. »Ich will etwas erschaffen, das<br />
dich – [gestikuliert] – bei <strong>de</strong>m du nicht weißt, was passiert.<br />
Du spürst einen Schlag hier in <strong>de</strong>iner Brust, kannst dich<br />
nicht konzentrieren, da ist einfach diese Wand!« Keine<br />
Frage, diese Musik braucht Platz. Dass die Band nach zwei<br />
Gigs in einer Kapelle in Shoreditch von manchen auf ein<br />
Kirchenbeschaller-Image festgelegt wur<strong>de</strong>, kommt nicht<br />
von ungefähr. Da ist dieses Tonnengewölbe-Echo auf allen<br />
Instrumenten, die ins Kolossale streben<strong>de</strong> Vertikalarchitektur<br />
<strong>de</strong>r Songs, <strong>de</strong>r große Wumms mit noch längerem<br />
Nachhall – und über allem das etwas pastorale Timbre<br />
von Sänger Thomas Cohen, das zu Stücktiteln wie »Faith<br />
Unfolds« o<strong>de</strong>r »Requiem« predigt. Mit englischer Gotik als<br />
Referenz kann man da kaum falschliegen. Shoe-Goth könnte<br />
man witzeln, wenn die Musik nicht geböte, alle Späßchen<br />
an <strong>de</strong>r Pforte <strong>de</strong>r Kathedrale abzugeben.<br />
Dieser eine Begriff muss aber mit rein ins Gewölbe:<br />
Shoegaze. Kilcoyne und Baker reagieren darauf ziemlich<br />
genau so wie Daniel Miller auf das Stichwort Retro (siehe<br />
Interview-Kasten): nicht gera<strong>de</strong> allergisch, aber betont <strong>de</strong>sinteressiert.<br />
Dabei hätten sie es leicht – »Wir benutzen ja kaum<br />
Gitarren«, könnten sie sagen. Auf <strong>de</strong>r Bühne bemühen sie nur<br />
bei ein, zwei Songs die umgeschnallte Feedback-Schleu<strong>de</strong>r<br />
und klotzen trotz<strong>de</strong>m eine massive Klangwand hin. Gera<strong>de</strong><br />
Kilcoyne und Baker haben dabei Batterien von Effekttretminen<br />
vor ihren Korgs und Moogs auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n liegen.<br />
Sie heben kaum <strong>de</strong>n Blick, um in die geblen<strong>de</strong>ten Augen<br />
<strong>de</strong>s Publikums zu schauen, starren hinab auf Keyboards<br />
und Pedale. Auf die offensichtlichen Verbindungslinien<br />
angesprochen, kontert Bradley Baker geschickt, in<strong>de</strong>m er<br />
diese einfach noch weiter in die Vergangenheit zieht: »Man<br />
sagt immer, dass die 90er-Szene vollgesogen war von 60s-<br />
Psyche<strong>de</strong>lia. Darauf stehe ich irgendwie. Aber ich wür<strong>de</strong><br />
nie etwas nachstellen wollen, das schon mal da war.« Und<br />
Kilcoyne ergänzt: »Wir spielen unsere Instrumente so, wie<br />
wir uns fühlen. Wie Musiker mit Aggression, mit Ungestüm,<br />
Hunger. Solche Bands hörten wir, und wir dachten: ›Zur<br />
Hölle, so wer<strong>de</strong>n wir auch spielen!‹«<br />
— <strong>Intro</strong> empfiehlt: S.C.U.M »Again Into Eyes« (Mute / EMI / VÖ 20.09.)<br />
Mute Records<br />
Depeche Mo<strong>de</strong>, Nick Cave,<br />
DAF, Erasure, Nitzer Ebb,<br />
Yeasayer, Liars, Goldfrapp,<br />
Moby – diese illustre Liste<br />
ist nur ein kleiner Ausschnitt<br />
aus <strong>de</strong>m Label-Roster von<br />
Mute. Mit <strong>de</strong>m Neustart<br />
kommt die nächste Generation:<br />
S.C.U.Ms Keyboar<strong>de</strong>r<br />
Samuel Kilcoyne ist <strong>de</strong>r<br />
Sohn von Barry 7 von Add<br />
N To (X), die auf Mute<br />
drei Alben veröffentlicht<br />
haben. Außer<strong>de</strong>m frisch im<br />
Angebot: Apparat, Yann<br />
Tiersen, Big Deal, Beth<br />
Jeans Houghton.<br />
Signals<br />
Samuel Kilcoyne: »In<br />
Warschau waren wir das<br />
erste Mal mit unserer<br />
neuen Schlagzeugerin Mel<br />
unterwegs und hatten einen<br />
freien Tag zur Verfügung.<br />
Wir sagten: ›Kommt, lasst<br />
uns etwas aufnehmen‹, und<br />
haben diesen Song gemacht.<br />
Daraus entstand diese<br />
I<strong>de</strong>e: ›Wenn wir in Städten<br />
im Ausland sind und Zeit<br />
haben, warum nehmen wir<br />
dort nicht einfach auf?‹«