Wissenschaftliche Arbeitsgruppe - Katholisch.de
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Art Rückversicherungssystem funktionieren. Sie versprechen einen materiellen Erfolg im Diesseits, <strong>de</strong>r<br />
„gleichsam schon die Eintrittskarte für das jenseitige Paradies“ darstellen soll (Meuer 1991:8).<br />
Infolge <strong>de</strong>r Infragestellung festverankerter Handlungs- und Normsysteme aufgrund radikaler, sozialer und<br />
wirtschaftlicher Umwandlungen hat in <strong>de</strong>r südlichen Hemisphäre die traditionelle Volksreligiosität ihre<br />
Selbstverständlichkeit verloren. Die Zerstörung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Netzwerke und Beziehungskreise<br />
durch soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklungen, wie z.B. die Verbreitung <strong>de</strong>s<br />
Kleinfamiliensystems, die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Frauenstatus und die geographische Mobilität haben die<br />
Erscheinung und die Verbreitung einer „verinnerlichten Religiosität“ (Max Weber) begünstigt, die, da sie<br />
auf einer unmittelbaren Beziehung zum Heiligen beruht, die Vermittlungsfunktion <strong>de</strong>r religiösen Institutionen<br />
relativiert. Eine solche „verinnerlichte Religiosität“ kann sowohl zur Privatreligiosität als auch<br />
zum Übertreten zu <strong>de</strong>n Sekten und NRMs führen, in <strong>de</strong>nen nach Siebeneichler die Appartenance<br />
„assozional“ ist und<br />
„in <strong>de</strong>r Sprache von Procopio <strong>de</strong> Camargo auf einer persönlichen<br />
beziehungsweise ,verinnerlichten‘ Wahl, die sich <strong>de</strong>r ,konservativen Trägheit‘<br />
einer kulturellen Tradition wi<strong>de</strong>rsetzt, beruht“ (Siebeneichler 1976:120).<br />
Lancaster erklärt, wieso sich in <strong>de</strong>n bibelfundamentalistischen Gruppen „Verinnerlichung“, Betonung<br />
<strong>de</strong>s Individuellen und Gemeinschaftsleben nicht ausschließen:<br />
„Where liberation theology’s key reference point is ,the community‘,<br />
evangelical Protestantism’s is the individual [...] But this is not to say that<br />
Protestantism thereby represents a ,religion of individualism‘, especially in the<br />
sense of individual accomplishment, competition, or greed. It does not. Its<br />
emphasis on the individual is not to exalt his social role but to apply more<br />
rigorous criteria of individual responsibility and accountability: the individual is<br />
more effectively circumscribed if his accountability for sin is effectively maximized“<br />
(Lancaster 1988:111).<br />
Die Sekten und NRMs als sinngeben<strong>de</strong> millenaristische Gemeinschaften<br />
Versprechungen <strong>de</strong>r nahen Wie<strong>de</strong>rkunft Christi und einer baldigen Umkehrung <strong>de</strong>r jetzigen<br />
Machtverhältnisse durch <strong>de</strong>n Anbruch <strong>de</strong>s Tausendjährigen Reiches (das Millennium) spielen eine<br />
be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle nicht nur bei <strong>de</strong>n Sekten, die eine revolutionist response to the world bevorzugen,<br />
son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n Pfingstkirchen mit ihrer prämillenaristischen Endzeitlehre sowie in <strong>de</strong>n meisten <br />
Unabhängigen Kirchen Schwarzafrikas. Die Naturkatastrophen, Krisensituationen und gesellschaftlichen<br />
Umbrüche wer<strong>de</strong>n als Warnzeichen für die kommen<strong>de</strong>n Ereignisse interpretiert. Infolge<strong>de</strong>ssen wird für die<br />
Armen und Entrechteten das heutige Lei<strong>de</strong>n als unumgänglich verstan<strong>de</strong>n und verliert so etwas von seiner<br />
Sinnlosigkeit.<br />
In <strong>de</strong>n ländlichen Gebieten Brasiliens hatten heidnische bzw. katholische messianistische und<br />
millenaristische Bewegungen <strong>de</strong>n Weg für die Prophezeiungen <strong>de</strong>r Endzeit durch die Pfingstkirchen<br />
vorbereitet (Pereira <strong>de</strong> Queiroz, 1968; Curry, 1967 u. 1970; Brandão 1987:63). Schon im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
hatten unterdrückte indios Brasiliens Bewegungen gegrün<strong>de</strong>t - mit einem „Messias“ als Lea<strong>de</strong>r. Sie<br />
verkündigten das Herankommen eines utopischen „Lan<strong>de</strong>s ohne Übel“, in <strong>de</strong>m die Weißen zu Dienern <strong>de</strong>r<br />
Indianer wer<strong>de</strong>n (Pereira <strong>de</strong> Queiroz 1988:26). Im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt lebten im brasilianischen Sertão neben<br />
Wan<strong>de</strong>rmönchen (genannt monges, irmãos o<strong>de</strong>r beatos) sog. „Auserwählte Gottes“ (eleitos do Senhor),<br />
neue santos o<strong>de</strong>r Messiasse, wie José Dos Santos, João Ferreira, João Maria Soracaba und vor allem Padre<br />
Cícero Romão Baptista o<strong>de</strong>r Antônio Maciel (O Conselheiro), die in einer Zeit großer sozialer Umbrüche<br />
(Abschaffung <strong>de</strong>r Sklaverei), steigen<strong>de</strong>r Verstädterung und Anomie ein weltliches Paradies versprachen<br />
(Pereira <strong>de</strong> Queiroz 1988:30-32; Siebeneichler 1976:25). All diese Messianismen, die gemeinschaftliche<br />
Interessen und traditionelle I<strong>de</strong>ntitäten zu erhalten versuchten, waren auch echte soziale Bewegungen<br />
(Touraine 1988:211). Der Messianismus hat ebenfalls eine lange Tradition in mehreren an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn<br />
Lateinamerikas: In Mexiko entflammte die cristeros-Bewegung <strong>de</strong>r 20er Jahre gegen die antiklerikale<br />
Politik <strong>de</strong>r damaligen Regierung. 1926 wur<strong>de</strong> die mexikanische Kirche la Luz <strong>de</strong>l Mundo gegrün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ren