Fukushima Reader_MJW200213_SB Logo - Internationales Bildungs
Fukushima Reader_MJW200213_SB Logo - Internationales Bildungs
Fukushima Reader_MJW200213_SB Logo - Internationales Bildungs
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
7.2 Der Psychiater der Tepco-Arbeiter<br />
„Unglaublich, wie traumatisiert sie sind“<br />
Seit dem Atomunfall betreut Jun Shigemura Arbeiter aus dem zerstörten Kernkraftwerk<br />
in <strong>Fukushima</strong>. Im Interview berichtet der Psychiater, was die Strahlenkämpfer durchmachen müssen -<br />
und warum die meisten trotzdem weitermachen.<br />
SPIEGEL ONLINE: Seit Mai kümmern Sie sich um Arbeiter aus dem havarierten Kernkraftwerk in<br />
<strong>Fukushima</strong>. Wie kommt man an so einen Job?<br />
Shigemura: Eigentlich ist es traurig, dass ich für das Seelenheil der Arbeiter zuständig bin. Aber Tepco<br />
hatte bisher keine Zeit dafür. Bis zum Erdbeben betreute ein Teilzeitpsychiater die Arbeiter aus den<br />
Kraftwerken Daiichi und Daini. Doch er kommt aus Minamisoma und bräuchte jetzt wegen der<br />
Sperrzone viel zu lang zur Arbeit. Einige Krankenschwestern im Gesundheitszentrum für die beiden<br />
Anlagen haben meine Publikationen gelesen und Kontakt zu mir aufgenommen. Daraufhin hat Tepco<br />
mich angefordert. Ich gehe als Freiwilliger dorthin.<br />
SPIEGEL ONLINE: Sie bekommen kein Geld für Ihre Arbeit?<br />
Shigemura: Nicht von Tepco, aber das will ich auch gar nicht. Das würde meinem Ruf schaden. Ich<br />
möchte nicht in die Profitmühlen der Atomindustrie geraten, zumal die Gehälter der Arbeiter um 20<br />
Prozent gekürzt wurden. Deshalb habe ich daraus ein Regierungsprojekt gemacht. Tepco hat bis<br />
heute keinen Psychiater gefunden, der meinem Team die Arbeit abnehmen möchte. Die meisten sind<br />
wohl besorgt um ihr Image und über die Strahlung. Außerdem gibt es generell zu wenige Psychiater<br />
in Japan. Nach dem Erdbeben von Kobe 1995 haben mehr Menschen verstanden, wie wichtig<br />
psychologische Betreuung ist. Doch viele Japaner glauben noch heute: Wer zum Psychiater geht,<br />
muss verrückt sein. Ich hoffe, dass sich das nach dieser Katastrophe weiter bessert.<br />
SPIEGEL ONLINE: Machen Sie sich selbst keine Sorgen über die Radioaktivität?<br />
Shigemura: Ich habe keine Angst, aber das heißt nicht, dass mir nicht etwas mulmig ist. Im Kraftwerk<br />
<strong>Fukushima</strong> Daiichi war ich noch nicht. Das Gesundheitszentrum für die Arbeiter ist auf dem Gelände<br />
von Daini, etwa zehn Kilometer entfernt. Die Strahlenwerte sind dort niedrig, aber meine Frau ist<br />
nicht sehr glücklich mit meiner neuen Arbeit. Sie hat mich anfangs vor die Wahl gestellt: „Ich oder<br />
das Kraftwerk“. Ich hoffe, dass sie inzwischen akzeptiert hat, dass ich gelegentlich dorthin fahre.<br />
SPIEGEL ONLINE: Was haben die Arbeiter in <strong>Fukushima</strong> in den vergangenen Monaten durchgemacht?<br />
Shigemura: Sie dachten, dass sie sterben würden, als die Reaktoren im März explodierten. Trotzdem<br />
mussten sie weiterarbeiten, um ihr Land zu retten. Viele kommen aus der Gegend um das Kraftwerk,<br />
ihre Häuser hat der Tsunami weggewaschen, ihre Familien mussten fliehen. Die Arbeiter haben ihr<br />
Zuhause verloren, ihre Lieben sind weit weg, sie fürchten sich vor der Radioaktivität. Und dazu<br />
kommt, dass die Öffentlichkeit ihnen Vorwürfe macht, weil sie für Tepco arbeiten. Viele denken, dass<br />
Tepco für die Katastrophe verantwortlich ist. In Japan wurden die Arbeiter nicht als Helden<br />
betrachtet wie in Europa. Einmal hat jemand frisches Gemüse für die Arbeiter gespendet, weil Tepco<br />
105