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8.6 Japans Politik nach <strong>Fukushima</strong> - Wir sind das Volk, Herr Premier!<br />
Von Heike Sonnberger<br />
Japan erlebt einen Aufstand der Bürger aller Schichten. Jede Woche gibt es Massenproteste gegen<br />
die Politik der Regierung. Selbst eine neue Partei ist aus der Bewegung entstanden - das kommt<br />
einem politischen Erdbeben gleich.<br />
Wie die meisten seiner Landsleute hätte sich Masaya Koriyama, 45, nicht vorstellen können, zum<br />
japanischen Parlament zu marschieren und dabei ein Banner zu schwenken. Bis zum Super-GAU im<br />
Kernkraftwerk <strong>Fukushima</strong> Daiichi. Die Explosionen dort schleuderten nicht nur radioaktive Partikel in<br />
die Luft, die weite Landstriche der Präfektur nördlich von Tokio auf Jahre unbewohnbar machten. Sie<br />
erschütterten auch das politische System des Landes.<br />
Nach der Katastrophe im März 2011 kündigte Koriyama seinen Job bei einem Lieferdienst für Bio-<br />
Lebensmittel - und tat etwas, was in Japan sehr unüblich ist. Er half mit, eine neue Partei zu gründen.<br />
Ende Juli konstituierte sich die Midori no To, die Grüne Partei. Koriyama ist einer ihrer Sprecher. „Wir<br />
wollen den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie und wir wollen, dass die Menschen in<br />
<strong>Fukushima</strong> mehr Unterstützung bekommen“, sagt er. „Im Moment möchten wir uns auf diese beiden<br />
Ziele konzentrieren.“<br />
Immer mehr Japaner tun ihren politischen Willen so deutlich kund wie Koriyama. Und das in einem<br />
Land, in dem es unhöflich ist, Kollegen oder Bekannte in eine politische Debatte zu verwickeln. „Man<br />
könnte ja verschiedener Meinung sein und jemanden vor den Kopf stoßen“, sagt der<br />
Kommunikationswissenschaftler Raimund Krummeich, der seit mehr als 30 Jahren in Japan lebt und<br />
lehrt. „Es gibt hier keine Diskussionskultur.“<br />
Fast jeder hat ein AKW in seiner Nachbarschaft<br />
Ebenso wenig wie eine Demonstrationskultur. Seit den Studenten- und Gewerkschaftsunruhen der<br />
sechziger Jahre hat Japan keine Massenproteste mehr erlebt. Dass nun schon seit Wochen jeden<br />
Freitag Zehntausende Menschen zum Parlament und zum Büro des Regierungschefs in Tokio ziehen<br />
und gegen Atomkraft protestieren, ist also kein alltäglicher Anblick. Noch dazu sind es diesmal<br />
Japaner aus allen Schichten und in jedem Alter, die gemeinsam marschieren, musizieren und Slogans<br />
rufen. Und sie kommen aus dem ganzen Land. Fast jeder hat eins der mehr als 50 Atomkraftwerke in<br />
seiner Nachbarschaft.<br />
Kazuhiko Kobayashi, 66, war bei fast allen großen Demos dabei. Der Anti-Atomkraft-Aktivist hat lange<br />
als Unternehmensberater in Hamburg gelebt und ist begeistert von der Entschlossenheit der<br />
Demonstranten. „Japaner sind leiser als Deutsche, aber ihr Wille ist so deutlich spürbar, das ist<br />
ungeheuerlich.“ Der Politologe Minoru Morita sagt: „Am System der repräsentativen Demokratie in<br />
Japan wird sich wohl nichts ändern.“ Aber im Zusammenspiel des nationalen Parlaments, der<br />
Regierung und den Präfektur- und Kommunalverwaltungen werde das Volk mehr Einfluss gewinnen.<br />
Ein gutes Jahr hat es gedauert, bis die Menschenmassen so angeschwollen sind, dass sie Straßen und<br />
Parks füllen. „Das ging traumhaft schnell für dieses Land“, sagt Kobayashi. Die meisten Japaner seien<br />
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