iso-NEWS - Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft eV
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Manfred Geiger: Ausgrenzung <strong>und</strong> Integration – historische Wendepunkte in der Sozialpolitik<br />
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wenn auch mit jeweils neuen Energien <strong>und</strong><br />
unter anderen Rahmenbedingungen, immer<br />
wieder zuspitzte <strong>und</strong> letztlich wiederum<br />
neue, tendenziell weitergreifende Konzepte<br />
der Armen-, Sozial- <strong>und</strong> Integrationspolitik<br />
erforderlich machte.<br />
An diesen Bemühungen entlang lassen<br />
sich die gr<strong>und</strong>legenden Innovationen der<br />
Armen- <strong>und</strong> Sozialpolitik verfolgen. Wichtige<br />
Stationen sind zum Beispiel die Bettelordnungen<br />
der Feudal- <strong>und</strong> Ständezeit<br />
sowie die paternalistische Privatwohltätigkeit,<br />
die mit der kirchlichen Erneuerungsbewegung<br />
<strong>und</strong> dem bürgerlichen Vereinswesen<br />
im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert aufkam. Zu<br />
nennen sind schließlich die staatlich organisierten<br />
Formen der sozialen Sicherung,<br />
die seit dem Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
sukzessive eingeführt wurden <strong>und</strong> bis heute<br />
zu den strukturbestimmenden Gr<strong>und</strong>pfeilern<br />
des Sozialstaats gehören. Gemeint<br />
sind insbesondere ein kollektives Arbeitsrecht,<br />
die Sozialversicherung, die „soziale<br />
Fürsorge“ sowie andere Formen des Sozialeigentums.<br />
Allerdings scheinen hier, wie<br />
die aktuelle Diskussion zeigt, neuerliche<br />
Reformen unausweichlich. Zu nennen sind<br />
als Beispiel einer gr<strong>und</strong>legenden Sozialreform<br />
aber auch die Perversionen einer<br />
völkischen Wohlfahrt, mit der die Nationalsozialisten<br />
Hilfeleistungen auf die <strong>für</strong> wertvoll<br />
empf<strong>und</strong>enen Volksgenossen konzentrierten,<br />
rassisch „Minderwertige“ <strong>und</strong> so<br />
genannte „Ballastexistenzen“ aber aus der<br />
Fürsorge ausschlossen oder gar der Vernichtung<br />
preisgaben. Damit habe ich<br />
gr<strong>und</strong>legende Wendepunkte in der Sozialpolitik<br />
markiert. Sie will ich kurz erläutern.<br />
12<br />
<strong>iso</strong>-Mitteilungen Nr. 3/August 2004<br />
Die Armenordnungen der<br />
Feudal- <strong>und</strong> Ständegesellschaft<br />
Mit den Fürsorgereformen, die vom späten<br />
Mittelalter an auf den Weg gebracht wurden,<br />
- das ist der erste Wendepunkt -<br />
kümmerte sich neben der Kirche fortan<br />
das städtische Bürgertum in systematischer<br />
Weise um die Armenfrage. „Das Almosen“,<br />
so Sachße/Tennstedt (1980: 30), „beginnt<br />
sich von einer religiös motivierten Mildtätigkeit<br />
zur zweckrationalen sozialpolitischen<br />
Strategie zu wandeln”; eine Entwicklung,<br />
die als ein sich wechselseitig vorantreibender<br />
Prozess von Kommunalisierung, Rationalisierung,<br />
Bürokratisierung <strong>und</strong> Pädagogisierung<br />
charakterisiert werden kann. Wir<br />
haben es also mit einem Programm zu tun,<br />
an dem sich noch die heutigen Sozialverwaltungen<br />
abarbeiten! Mit den städtischen<br />
Fürsorgereformen, die seit dem Ende<br />
des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts auf den Weg gebracht<br />
wurden, gewinnen die repressiven<br />
Komponenten der Bedürftigkeitsprüfung,<br />
der Aufenthaltsbeschränkung <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />
von Bittstellern an Bedeutung,<br />
wenngleich das christliche Armenverständnis<br />
nach wie vor, bis in die heutige<br />
Zeit hinein, eine Rolle spielt.<br />
Die Kriterien, nach denen über die Hilfebedürftigkeit<br />
<strong>und</strong> -würdigkeit entschieden<br />
wurde, waren unverkennbar die Tugenden<br />
<strong>und</strong> Normalitätserwartungen des<br />
bürgerlichen Mittelstandes; also vor allem<br />
die der Handwerker <strong>und</strong> Kaufleute. Die <strong>für</strong><br />
die Antike typische <strong>und</strong> noch im Mittelalter<br />
nachwirkende Assoziation von Armut <strong>und</strong><br />
Arbeit verblasste. Armut wurde nun eher<br />
mit Nichtarbeit in Verbindung gebracht,<br />
mit Faulheit <strong>und</strong> Müßiggang, mit Randständigkeit<br />
<strong>und</strong> Anders-Sein; vor allem<br />
aber mit dem Fremden, der mittellos um-