iso-NEWS - Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft eV
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Manfred Geiger: Ausgrenzung <strong>und</strong> Integration – historische Wendepunkte in der Sozialpolitik<br />
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14<br />
Bürgerliche Philanthropie <strong>und</strong><br />
„proletarische Sittlichkeit“<br />
So war das Bürgertum auch aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> mit einer sozialen Frage konfrontiert,<br />
die es weder ignorieren noch mit den traditionellen<br />
Mitteln der Armenhilfe politisch<br />
neutralisieren konnte. Es musste in <strong>und</strong><br />
außerhalb der Fabrik aktiv etwas tun, damit<br />
die massenhaft entkoppelten aber<br />
perspektivisch als Arbeitskräfte wichtigen<br />
Pauper zu Proletariern werden konnten<br />
<strong>und</strong> zumindest in diesem Sinn in die Gesellschaft<br />
integriert wurden. Unter diesem<br />
Gesichtspunkt tat eine minimalisierte, am<br />
Abstandsgebot orientierte <strong>und</strong> polizeilich<br />
abgesicherte Armenpflege sicherlich das<br />
Ihre. Sie erhöhte den Druck <strong>und</strong> zwang die<br />
Menschen, weil sie zugleich das Ausweichen<br />
in alternative Subsistenzmöglichkeiten<br />
erschwerte, sich zu den gegebenen<br />
Bedingungen auf die freie Lohnarbeit einzulassen.<br />
Die Arbeitskraft wurde mobil <strong>und</strong><br />
mit ihr rückte der Pauperismus immer näher<br />
an Wohnquartiere des Bürgertums <strong>und</strong><br />
damit an ihre unmittelbare Lebenswelt<br />
heran. Auch deswegen, um die unangenehmen,<br />
zum Teil auch <strong>für</strong> bedrohlich gehaltenen<br />
Begleiterscheinungen des Elends<br />
in Grenzen zu halten, sahen sich die Bürger,<br />
die von ihnen getragenen Vereine<br />
<strong>und</strong> Instanzen kommunaler Selbstverwaltung<br />
zur Reaktion herausgefordert. Denn in<br />
dieser Hinsicht hielt sich der liberale<br />
Nachtwächterstaat heraus.<br />
Hier musste sich das Bürgertum schon<br />
selbst helfen. Und nicht zuletzt mag die<br />
unmittelbar nahe gehende Betroffenheit,<br />
die direkte Konfrontation mit den bettelnden<br />
Müttern, die im eisigen Wind ihre<br />
wimmernden Kinder vor die Türen der<br />
Wohlhabenden trugen, die Suche nach<br />
<strong>iso</strong>-Mitteilungen Nr. 3/August 2004<br />
neuen Lösungen beflügelt haben. Wenn<br />
schon das Elend unabweislich an die Welt<br />
des Bürgertums herandrang, so sollten<br />
doch wenigstens seine unangenehmen<br />
Begleiterscheinungen - Seuchengefahr,<br />
Bettel, Unrat, Kleinkriminalität, ungebührliche<br />
Lebensart - eingegrenzt werden. Die<br />
Verhältnisse der Armen sollten gebessert,<br />
ihr sittlich-moralischer Verfall gestoppt, ihre<br />
Lebensführung angeleitet <strong>und</strong> wirksamer<br />
kontrolliert werden. Wenn schon die Armen<br />
keine Bürger waren - <strong>und</strong> wohl auch keine<br />
werden sollten, denn sie wurden ja als proletarische<br />
Arbeitskräfte gebraucht - so ging<br />
es doch wenigstens um die „Herstellung<br />
einer ‘proletarischen Sittlichkeit’“ (Dießenbacher<br />
1986: 236). Um so eher war zu erwarten,<br />
dass sich die unteren Schichten in<br />
konstruktiver Weise auf die Zumutungen<br />
der freien Lohnarbeit in der Fabrik einließen<br />
<strong>und</strong> sich auch ansonsten einer einigermaßen<br />
passablen, das Bürgertum nicht all zu<br />
sehr behelligender Lebensführung befleißigen.<br />
Hier sah sich vor allem die christlichbürgerliche<br />
Privatwohltätigkeit, aber auch<br />
die betriebliche Patronage gefordert.<br />
Angeleitete Selbsthilfe <strong>und</strong><br />
die „Macht der Liebe“<br />
Eine gr<strong>und</strong>legende Strategie dieser Mission<br />
ist beispielsweise die angeleitete Selbsthilfe,<br />
die sich vor allem um den bürgerlichen<br />
Spargedanken zentrierte. Daraus sind die<br />
späteren Sparkassen entstanden. Dieser<br />
Ansatz wurde aber auch von den verschiedensten<br />
Varianten betrieblicher Patronage<br />
aufgegriffen. Ein Beispiel da<strong>für</strong> sind<br />
die sozialen Taten der Firmendynastie<br />
Stumm, die hierzulande, wie es in Anlehnung<br />
an die Despoten im Nahen Osten<br />
hieß, in „Saarabien“, mit ihrer patriarchali-