Viertes Bayerisches Forum Suchtprävention - Landeszentrale für ...
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Das Beratungsgespräch bei Ess-Störungen<br />
Ingrid Mieck<br />
In den 14 Jahren, in denen ich Menschen mit Ess-Störungen berate, hat sich die<br />
Faszination dieser Aufgabe <strong>für</strong> mich nie verändert. Jedes Beratungsgespräch ist<br />
ein kleines Abenteuer, ein Mensch, den man in kurzer Zeit häufig intensiv kennenlernt,<br />
und oft ist dieser Mensch an einem Wendepunkt. Und ich sehe meine<br />
Arbeit als etwas Wichtiges an, bin froh über das Ergebnis.<br />
Ganz im Gegensatz zur eigenen Einschätzung meiner Arbeit, bekomme ich häufig<br />
verständnislose Fragen gestellt, wozu das eigentlich nötig sei, was ich da mache.<br />
Die Argumentation der Zweifler lautet dann etwa so: Ein Mensch, der eine<br />
Ess-Störung hat – ein Mädchen, eine Frau, ein Knabe, ein Mann – und sich an<br />
eine fachkompetente Stelle wendet, weiß, dass sie oder er ein Problem hat.<br />
Es handelt sich dabei um ein psychisches Problem, ist also durch Therapie zu lösen.<br />
Dann ist es doch folgerichtig, wenn man diesem Menschen sagt, wo Therapie<br />
stattfindet, dann kann sie oder er dahin gehen und Therapie erfahren, um dadurch<br />
wieder gesund zu werden. Wozu dann noch Beratung?<br />
In Übereinstimmung mit den Zweifeln an der Notwendigkeit von Beratung fand ich<br />
bei meiner Literaturrecherche so gut wie keine Literatur zu Beratung bei Ess-<br />
Störungen. Beratung bzw. counseling fand ich nur im Zusammenhang mit Ernährungsberatung.<br />
Einzig im Schlagwortregister des Bayerischen Bibliothekenverbundes<br />
fand ich unter den Stichworten „Beratung“ und „Ess-Störungen“ als Literaturangabe<br />
die Projektstudie von Christa Appel vom Frankfurter Zentrum <strong>für</strong> Esstörungen.<br />
Darin kommt „Beratung“ als Beschreibung der Fachkräfte als „Beraterinnen“<br />
vor, es ist auch von „Beratungsstellen“ die Rede, inhaltlich aber Beratung,<br />
gegenüber Behandlung abgegrenzt, kommt ebenfalls nicht darin vor.<br />
Wozu also Beratung bei Ess-Störungen, wenn sie der Logik nach verzichtbar ist<br />
und ihre Wirksamkeit bisher auch offenbar nicht ausreichend nachgewiesen wurde?<br />
Ich möchte an dieser Stelle beschreiben, in welcher Situation und mit welchen<br />
Fragen Klientinnen und Klienten in unsere Beratungsstelle kommen. Viele von ihnen<br />
haben in letzter Zeit mit sich die Erfahrung gemacht, so, wie sie leben, nicht<br />
mehr weiterleben zu wollen. Sie verspüren, dringend Änderungen vornehmen zu<br />
müssen, vor allem hinsichtlich ihres Essverhaltens. Sie haben weiterhin die Erfahrung<br />
gemacht, dass eigene Versuche, die notwendigen Veränderungen in ihrem<br />
Leben vorzunehmen, gescheitert sind. Sie fühlen sich dabei häufig zunehmend<br />
machtlos, minderwertig, unglücklich. Viele der KlientInnen kommen mit großer<br />
Angst, Scham, Scheu zu uns. Eine hohe Hemmschwelle ist allgemein schon hinsichtlich<br />
dem Aufsuchen von Beratungsstellen gegeben. Ich zitiere Brunner: „Erschwerend<br />
kommt hinzu, dass der Gang zur Beratungsstelle Angst erzeugt und<br />
als ein Sich-Ausliefern an eine anonyme Instanz erlebt wird.“ Besonders Menschen<br />
mit Ess-Störungen haben eine sehr hohe Hemmschwelle, sich mit Ihrer Erkrankung<br />
– ich sag es mal mit diesem Wort – zu „outen“.<br />
Sie leiden unter erheblichen Scham- und Schuldgefühlen, es fällt ihnen von daher<br />
in besonderem Maße schwer, zur Auflösung ihres Symptoms um Hilfe nachzusuchen.<br />
Hinzu kommt, dass essgestörte Menschen ihr Symptom zur Aufrechterhaltung<br />
ihrer äußeren und inneren Homöostase benötigen und oft große Angst allein<br />
schon bei dem Gedanken daran haben, es loszulassen. Die „Notwendigkeit“ einer<br />
Ess-Störung <strong>für</strong> die psychische Balance wird unter anderem durch Untersuchungen<br />
belegt, die zum Ergebnis haben, dass das Auftreten von Ess-Störungen in<br />
umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Auftreten von Psychosen stand.<br />
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