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urbanLab Magazin IMPULSE 08/2020 - Heimatwerker*innen

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Eine zu befürchtende Systemkritik durch das Proletariat<br />

wurde umgangen, indem aus der bisherigen Arbeiterklasse<br />

„kleinen Kapitalisten“ gemacht wurden,<br />

die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, um eventuell<br />

auch einmal Aktien oder ein Haus besitzen zu können<br />

(Röpke, 1950). Der soziale Zusammenhalt dieser auf<br />

Konkurrenz basierenden Gesellschaft sollte allein<br />

„von unten“ entstehen durch Familie, Freundeskreis<br />

und Kollegen. Für alles andere, etwa eine nationale<br />

Idee war das Misstrauen der Beteiligten, von den Alliierten<br />

über die Urväter bis hin zum Volk selbst, zu<br />

groß. Ich will hier gar nicht weiter auf die Entstehung<br />

des modernen Deutschlands eingehen, außer festzustellen,<br />

dass die Deutschen eine schwere Geburt<br />

hatten (siehe hierzu auch Lorch, 2017; Zweynert,<br />

2013; Biebricher, 2011; Bonefeld, 2012; Somma, 2013;<br />

Kurthen, 1995; Oliver, 1960; Hall & Soskice, 2001;<br />

Foucault & Senellart, 20<strong>08</strong>).<br />

Die deutsche Identität, wenn es sie nun gibt, ist<br />

historisch stark gefärbt durch Krieg und Leid, gesellschaftlich<br />

durch homogenisierende Bildung<br />

und Kultur und in moderner Zeit durch wirtschaftliche<br />

und gesellschaftliche Konkurrenz.<br />

Dies ist einerseits als Basis für eine weltoffene Einwanderungsgesellschaft<br />

etwas dürftig. Es erklärt<br />

aber, warum die Deutschen sich damit so schwertun,<br />

mussten sie sich schließlich auch selbst stets zusammenraffen.<br />

Andererseits ist die Aufnahme Anderer<br />

und kulturelles (Er)Lernen ebenso Teil der deutschen<br />

Gesellschaft. Es ist eine Frage der Einstellung, in welche<br />

Richtung sich die Gesellschaft entwickelt. Ein Immigrationsland<br />

war die BRD schon immer, eingestanden<br />

hat sie es sich jedoch nie und tut sich weiterhin<br />

schwer damit.<br />

Einwanderungswellen gab es einige, von den Kriegsvertriebenen<br />

über die Gastarbeiter, zu den Geflüchteten<br />

aus dem Ostblock, dem Balkan, anderen<br />

Krisenherden und schließlich aus Syrien. Man teilte<br />

notgedrungen den Sandkasten (weil so in der Verfassung<br />

verankert), nicht aber das kleinkapitalistische<br />

Spielzeug. Migranten durften zugucken, aber nicht<br />

mitspielen – sie würden ja sowieso nicht bleiben<br />

(Kurthen, 1995; Schuster, 2003; Senellart & Foucault,<br />

20<strong>08</strong>). Zuwanderer wurden als wirtschaftliche Bürde<br />

betrachtet, als soziales Problem und vermutlich<br />

auch als Bedrohung für eine schwächelnde deutsche<br />

Identität. Man war misstrauisch gegenüber fremden<br />

Gebräuchen und Religionen und behandelte Migranten<br />

jahrzehntelang mit ignoranter Überlegenheit. Inzwischen<br />

haben 25% der Bevölkerung und fast 40%<br />

der Kinder einen „Migrationshintergrund“ (destatis,<br />

2017), oder sagen wir lieber „internationale Erfahrung“<br />

(El-Mafaalani, 2018), etwas womit die Deutschen<br />

historisch gesehen nicht gerade brillieren.<br />

Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hat unter<br />

Deutschen eine Integrationsdebatte losgetreten,<br />

wie es keine vorherige Einwanderungswelle geschafft<br />

hat.<br />

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, mit Zuwanderung<br />

umzugehen. Zum einen können Migranten möglichst<br />

schnell eingedeutscht werden – Assimilation.<br />

Dieser Weg des Deutschwerdens ist den Deutschen<br />

schließlich historisch vertraut: Anpassen,<br />

Klappe halten, hinten anstellen (siehe auch Esser,<br />

2009). Dieser Weg ist aber ein gesellschaftlicher<br />

Holzweg. Er bringt keine neuen Erfahrungen oder<br />

Erkenntnisse und auch die gesellschaftliche Entwicklung<br />

nicht voran. Auch im internationalen<br />

Vergleich bietet er Deutschland keinerlei Vorteile,<br />

sondern ist ein Rückzug in eine nationale Ebene,<br />

die global zunehmend an Bedeutung verliert (Sassen,<br />

2001; Brenner, 2011; Robertson, 1994; 1995).<br />

Zum anderen kann sich Deutschland gesellschaftlich<br />

öffnen: schauen wir doch erstmal, was die<br />

Zuwanderer so mitbringen an Lebenserfahrung<br />

aus der großen weiten Welt. Es ist bestimmt etwas<br />

dabei, das die deutsche Welt erweitert und<br />

einen Mehrwert bildet. Der bessere Weg führt<br />

über eine ergebnisoffene Selbstfindung zur Revision<br />

des deutschen Selbstverständnisses: nicht<br />

inert, nicht hybrid, sondern genuin (Kuppinger,<br />

2014). Mit einer solchen Diskussion könnte sich<br />

Deutschland auch international besser positionieren,<br />

denn nicht nur Deutschland ändert sich,<br />

sondern Migration und diverse Gesellschaften<br />

sind ein globales Thema. Eine offene und diverse<br />

Gesellschaft hat bessere Zukunftsaussichten in<br />

einer globalisierenden Welt als Nationalnostalgie,<br />

Schließung und Schuldzuweisungen (Gaitanides,<br />

2011; 2012).<br />

Aladin el Mafaalani (2018) beschreibt sehr eindrücklich,<br />

wieviel sich in jüngster Zeit verbessert<br />

hat Hinsichtlich der Emanzipation von Minderheiten<br />

und dass das konstruktive Austragen von<br />

Konflikten kein Zeichen des sozialen Scheiterns,<br />

sondern des Gelingens einer Gesellschaft ist, die<br />

sich öffnet und an sich wächst. Er weist aber auch<br />

darauf hin, dass mit steigenden Ansprüchen die<br />

Diskussion auch schwieriger wird. In einer Gesellschaft<br />

mit derart hohem internationalen Anteil ist<br />

es schlicht anmaßend von Integration im Sinne von<br />

Assimilation zu sprechen. Die deutsche Gesellschaft<br />

steckt in einem identitären Veränderungsstau.<br />

Wenn dies nicht offen thematisiert wird, bremst sich<br />

Deutschland wirtschaftlich, sozial und politisch<br />

selber aus und desintegriert zu einer hinterwäldlerischen<br />

Angstnation à la Sarrazin, welche die<br />

Schuld ihres Versagens immer auf die Anderen<br />

schiebt.<br />

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