Pieks_2021_02_26

INTERVIEW
»Die Vorteile sind
still und unsichtbar,
mögliche Schäden
erschreckend laut«
So banal es klingt: Nichts im Leben
ist ohne Risiko. Und dennoch
wünschen sich viele Menschen das
Gegenteil: hundertprozentige Sicherheit.
Hinzu kommt noch ein Problem:
Menschen sind sehr schlecht darin,
Risiken einzuordnen. Die britische
Wissenschaftlerin Alexandra Freeman
erklärt, wie das im Alltag besser
gelingen kann
WIR GEHEN IM ALLTAG STÄNDIG RISIKEN EIN.
WIE KOMMT ES, DASS WIR BEI EINIGEN GE­
LASSEN BLEIBEN, WÄHREND UNS ETWA MÖG­
LICHE NEBENWIRKUNGEN EINER IMPFUNG IN
ALARMBEREITSCHAFT VERSETZEN?
Bei allem, was wir im Leben tun, geht es darum,
die Vor- und Nachteile abzuwägen. Das läuft
in den meisten Fällen unterbewusst ab. In der
Regel wiegen dabei Risiken in ferner Zukunft
leichter als solche, die unmittelbare Konsequenzen
haben könnten. Die Freude, die ich
habe, wenn ich in einen saftigen Cheeseburger
beiße, lässt die möglichen Folgen für meine
Gesundheit oder ökologische Bedenken in den
Hintergrund rücken.
WAS BEDEUTET DAS FÜR IMPFUNGEN?
Eine Impfung ist Vertrauenssache. Sie erlauben
jemandem, Ihnen eine Substanz zu injizieren.
Sie müssen darauf vertrauen, dass die Beweise
für den potenziellen Nutzen die Beweise
für mögliche Schäden überwiegen. Dennoch
werden Sie wahrscheinlich immer nur von
den potenziellen Schäden hören und nie von
Menschen, die die Impfung vor der Krankheit
geschützt hat. Die Vorteile sind still und
unsichtbar, die möglichen Schäden können
erschreckend laut sein. Das macht es zu einer
Frage des Vertrauens.
IM MOMENT SIND WIR MIT VÖLLIG NEUEN
RISIKEN KONFRONTIERT, DIE WIR
SCHWER EINSCHÄTZEN KÖNNEN. WAS IST
DER BESTE WEG, DAMIT UMZUGEHEN?
Es gibt eine Menge Dinge, die wir jetzt über das
Coronavirus wissen und verstehen. Aber ja, das
DR. ALEXANDRA FREEMAN
Kommunikations forscherin an der
britischen Cambridge-Universität
Alexandra Freeman hat Zoologie
studiert und viele Jahre
als Produzentin wissenschaftliche
Serien für den britischen Fernsehsender
BBC verantwortet.
Seit 2016 ist sie Direktorin am
Winton Centre für Risiko- und
Evidenz kommunikation.
vergangene Jahr hat uns gezeigt, wie wichtig
es ist, mit Unsicherheit umgehen zu können.
Unsicherheit erfordert Demut. Um vertrauenswürdig
zu sein, müssen Sie offen für Ihre
Unsicherheiten sein. Nur weil Politiker oder
Forscher nicht alles wissen, heißt das nicht, dass
sie nichts wissen.
WIE KANN MAN ANGESICHTS SOLCHER
UNSICHERHEITEN ENTSCHEIDUNGEN FÄLLEN?
Wenn Sie angesichts der Unsicherheit gute
Entscheidungen treffen wollen,
versuchen Sie, ein vernünftiges
Worst-Case-Szenario
sowohl für den potenziellen
Nutzen als
auch für den möglichen
Schaden
abzuwägen.
Und seien Sie bereit, Ihre
Meinung zu ändern, wenn neue
Beweise vorgelegt werden. Wir alle
müssen flexibel und schnell sein,
wenn sich die Beweislage ändert.
Es ist keine Schande, die eigene
Meinung oder Entscheidung zu
ändern; es ist nur eine Schande,
dies nicht zu tun.
WIE WÜRDE EINE SOLCHE
EINSCHÄTZUNG IM FALL
EINER COVID­19­IMPFUNG
AUSSEHEN?
Hier gilt es für jeden, die bekannten
Risiken einer Impfung und einer
Covid-19-Infektion gegeneinander
abzuwägen. Also: Was sind die schlimmsten
Risiken einer Impfung – und was die
schlimmsten Folgen einer Infektion mit
Covid- 19? Und: Mit welcher Wahrscheinlichkeit
treten die Risiken ein?
Im Moment hat sich gezeigt, dass Impfstoffe
Ihr Risiko verringern, an Covid-19 zu
sterben. Das ist der Vorteil. Die mög lichen
Schäden? Nun, wir wissen von einigen
kurzfristigen Nebenwirkungen bei Hunderttausenden,
die die Impfstoffe erhalten haben.
Es gibt keine Hinweise auf Langzeitschäden,
aber wir haben vielleicht noch nicht genug
Daten dazu.
Sollte sich herausstellen, dass der Impfstoff
einen zusätzlichen Vorteil bringt, indem
er verhindert, dass eine Person das Virus auf
andere überträgt, wäre dies ein dritter Faktor,
der abgewogen werden muss: ob der Nutzen,
den Sie anderen und sich selbst bieten, den
potenziellen Schaden für Sie selbst überwiegt.
INWIEWEIT BEEINFLUSST DIE ART UND
WEISE, WIE INFORMATIONEN KOM­
MUNIZIERT WERDEN, UNSERE WAHR­
NEHMUNG VON ANGST?
Der Einfluss kann riesig sein. Wenn ich sage,
dass sich ein bestimmtes Risiko verdoppelt
hat, klingt das beängstigend. Hat es sich
jedoch von 0,001 Prozent auf 0,002 Prozent
verdoppelt, klingt das weit weniger angsteinflößend.
Wenn ich sage, dass eine von zehn
Personen bei einer Operation wahrscheinlich
stirbt, dann ist das beunruhigend. Sage ich
hingegen, dass 90 Prozent den Eingriff überleben,
klingt das viel besser. Kommunikatoren
haben große Macht über
unsere Emotionen – und damit
eine große Verantwortung.
GIBT ES ETWAS,
VOR DEM SIE
PERSÖNLICH IN
DER PANDEMIE ANGST HABEN?
Angst ist nicht das richtige Wort.
Natürlich ist Covid-19 eine Krankheit,
die die Menschen schwächt und leider
viele auch tötet. Wegen der neuen
Virusvarianten, die sich schneller verbreiten,
dürften die ersten Monate des
Jahres 2021 hier in Großbritannien
weiterhin so schwierig sein, wie wir
es in manchen Monaten des Jahres
2020 bereits erlebt haben. Und
selbst nach dem Ende der akuten
Krise wird es eine lange Erholungsphase
geben – für viele Länder. All das
beunruhigt mich, und es macht mich
traurig für alle, die betroffen waren und
noch sein werden.
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