Pieks_2021_02_26
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Ob sich die Büros je wieder<br />
füllen? Städte bleiben die<br />
kreativen Zentren. Daran<br />
ändert auch das Homeoffice<br />
nichts, meinen Experten<br />
Ein Historiker sieht Parallelen zu<br />
den 1920ern – den »verrückten<br />
Jahren«, in denen man das Leben<br />
und das Überleben feierte.<br />
Partys, Freunde, Open Air:<br />
für den Sommer <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
noch mit einem großen<br />
Fragezeichen versehen<br />
DAS ALLZEITGERÜCHT<br />
Bringt Corona einen<br />
Babyboom?<br />
Der Mythos hält sich hartnäckig: Angeblich<br />
führen Stromausfälle, Schneestürme<br />
und dergleichen zu einem Anstieg der<br />
Geburten neun Monate später. Statistisch<br />
erwiesen hat sich das nie. Kein Wunder:<br />
Langeweile mag zu Sex führen, aber<br />
nicht zum Eisprung. Die Pandemie könnte<br />
dennoch Auswirkungen zeigen. Ungeplante<br />
Schwangerschaften könnten steigen,<br />
wo Verhütungsmittel schwerer verfügbar<br />
waren. Da Corona aber mit erheblichen<br />
Zukunftsängsten verbunden ist, dürften<br />
Paare ihren Kinderwunsch eher aufgeschoben<br />
haben. Die Überlastungen im<br />
Gesundheitsbereich erschweren auch<br />
den Zugang zu künstlicher Befruchtung.<br />
Möglich also, dass sich Paare nach der<br />
Pandemie vermehrt ihren Kinderwunsch<br />
zu erfüllen versuchen.<br />
könnten Kinder langfristig traumatisiert bleiben.<br />
„Von einer verlorenen Generation zu reden<br />
wäre sicher übertrieben“, sagt Pauen. „Aber wir<br />
müssen nach der Pandemie deutlich mehr für<br />
diese Kinder und Jugendlichen tun als vorher.“<br />
POLITIK UND WERTE IN BEWEGUNG<br />
Möglich ist, dass Corona politischen Schwung<br />
bringt. „Nach großen Epidemien gibt es eine<br />
regelrechte Regelungsflut“, sagt Historiker<br />
Schneidmüller. In ganz Europa seien nach der<br />
Endlich wieder shoppen<br />
gehen. Doch der stationäre<br />
Handel steckt in einer tiefen<br />
Krise. Viele Geschäfte<br />
dürften sie nicht überleben<br />
Pest Verfassungen, Verträge und Edikte gesprossen.<br />
„Es gab die Tendenz, mehr zu regeln.“<br />
Ob das gute Nachrichten für Bildungspolitik,<br />
Klimaschutz oder internationale Zusammenarbeit<br />
sind? Schneidmüller will es nicht<br />
ausschließen. „Wir erleben gerade eine Renaissance<br />
des Nationalstaats. Menschen erwarten<br />
mehr und sind auch zu mehr Zugeständnissen<br />
bereit.“ Das deckt sich mit der Prognose von<br />
Zukunftsforscher Schetsche: „Die Menschen<br />
wollen, dass Behörden schnell handeln. Die<br />
Exekutive gewinnt an Gewicht. Das bringt ein<br />
Demokratiedefizit, das wir kritisch hinterfragen<br />
sollten.“ Die 1920er ließen schließlich nicht<br />
nur Jazz, Kino und Tanz erblühen. Sie bildeten<br />
auch den Nährboden für den Faschismus.<br />
Die Rollenverteilung zu Hause muss nach<br />
Corona ebenfalls neu verhandelt werden. Laut<br />
einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung haben<br />
Frauen zuletzt für Homeschooling und Kinderbetreuung<br />
hierzulande beruflich deutlich<br />
stärker zurückgesteckt als Männer. Klassische<br />
Geschlechterrollen verfestigen sich wieder.<br />
Franziska Deutsch untersucht derzeit, ob sich<br />
durch die Pandemie auch Werte und politische<br />
Einstellungen verändern. Die Politologin und<br />
ihr Team von der Jacobs-Universität Bremen<br />
wollen Befra gun gen zu Anfang, während<br />
und nach der Pan demie vergleichen. Solche<br />
Studien laufen derzeit in zwölf Ländern – von<br />
Deutschland bis Südkorea. „Wir vermuten, dass<br />
sich Wertvorstellungen in zwei gegensätzliche<br />
Richtungen entwickeln werden“, so Deutsch.<br />
Manche würden durch bedrohliche Ereignisse<br />
sicherheitsorientierter: „Das haben wir etwa<br />
nach den Attentaten vom 11. September 2001<br />
in den USA gesehen“, so Deutsch. Weil Corona<br />
jedoch kein Feind von außen ist, sei auch der<br />
Gegentrend denkbar. „Dann eint uns die Bedrohung<br />
durch das Virus und macht Menschen<br />
eher offener.“ Für besonders wahrscheinlich<br />
hält Deutsch, dass Corona auch hier vor allem<br />
wieder als der große Verstärker für bestehende<br />
Tendenzen wirkt: Konservative werden konservativer,<br />
Progressive progressiver.<br />
Das dürfte tatsächlich auch beeinflussen, wie<br />
jeder Einzelne nach der Pandemie zurück zu<br />
alten Gewohnheiten findet. Menschen werden<br />
neu austarieren, wen sie umarmen und wann.<br />
Aussterben werden Umarmungen und selbst<br />
der Händedruck nicht, glaubt Zukunfts forscher<br />
Schetsche: „Das sind sehr alte und stabile Verhaltensmuster.“<br />
Wenn Corona eins gezeigt hat,<br />
dann ist es, wie sehr wir uns nach menschlichen<br />
Kontakten und Berührungen sehnen. Zur Not<br />
holen wir sie uns halt im Einhornkostüm.<br />
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