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Pieks_2021_02_26

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WISSEN ∙ ZUKUNFT<br />

FOTO: GETTY IMAGES<br />

Kaufhäuser, die bislang mit psychologischen<br />

Tricks die Kundschaft zum Verweilen und Stöbern<br />

animierten, prüfen demnach, wie sie die<br />

kontakt- und bargeldlose Expressabwicklung<br />

voranbringen. Laut Europäischer Zentralbank<br />

haben 40 Prozent der Bürger im Euroraum 2<strong>02</strong>0<br />

deutlich weniger Bargeld verwendet als 2019.<br />

Nach der Pandemie wollen das 90 Prozent von<br />

ihnen beibehalten.<br />

Das Kinosterben dürfte Corona ebenfalls<br />

beschleunigen. Volle 32 Milliarden US-Dollar<br />

hat die Branche 2<strong>02</strong>0 verloren – ein Umsatzeinbruch<br />

von 71,5 Prozent gegenüber 2019.<br />

Auch die letzten Hollywoodstudios haben deshalb<br />

das Streaming für sich entdeckt. Warner<br />

Bros. will alle Produktionen für <strong>2<strong>02</strong>1</strong> sofort per<br />

Streaming verfügbar machen, statt sie zunächst<br />

exklusiv im Kino zu spielen.<br />

Digitalisierung und Pandemie wälzen auch<br />

unsere Essgewohnheiten um. Nicht nur der<br />

selbst gemachte Sauerteig gehörte 2<strong>02</strong>0 zu den<br />

Gewinnern. Liefer-Apps boomen heute noch<br />

stärker als schon vor Corona – genauso wie<br />

„Ghost Kitchens“. So nennt man reine Lieferdienste,<br />

die sich das Restaurant gleich ganz<br />

sparen und in anonymen Lagerhallen kochen.<br />

KULTUR AM WENDEPUNKT<br />

Künstler, Theater, Konzertveranstalter und<br />

Messen haben 2<strong>02</strong>0 ebenfalls notgedrungen im<br />

Internet experimentiert. Ein würdiger Ersatz<br />

war das selten – schon gar nicht wirtschaftlich.<br />

Beim deutschen Verband der Konzert- und<br />

Veranstaltungswirtschaft heißt es, die Hälfte<br />

der Unternehmen werde die Pandemie nicht<br />

überleben. Tontechniker und Beleuchter<br />

schulten längst um. Stirbt damit die Kultur?<br />

Unwahrscheinlich. Viele Konzerthallen sind<br />

für <strong>2<strong>02</strong>1</strong> allein schon mit Nachholterminen<br />

ausgebucht. Der Nachholbedarf beim Publikum<br />

ist womöglich noch viel größer.<br />

„Nach großen Pandemien wie der Pest<br />

in Europa sehen wir, wie das öffentliche Leben<br />

im regelrechten Überschwang aufblüht“, sagt<br />

Bernd Schneidmüller. Er ist Professor für Mittelalterliche<br />

Geschichte an der Uni Heidelberg.<br />

„Wir können das nachlesen bei den Kirchenmännern,<br />

die wortreich über die Ausschweifungen<br />

und eine neue Lasterhaftigkeit klagen. Aber<br />

wir sehen es auch in der Mode und der Kunst,<br />

die freizügiger und freigeistiger werden.“<br />

Wie viele andere zieht Schneidmüller Parallelen<br />

zu den 1920ern – den Roaring Twenties<br />

oder den „verrückten Jahren“ (années folles),<br />

wie sie in Frankreich heißen. Nach dem Ersten<br />

Weltkrieg und der Spanischen Grippe gaben<br />

sich die Menschen dem Rausch hin. Musik, Tanz,<br />

Kultur und Gesellschaft erfanden sich neu.<br />

„Man feierte das Leben und das Über leben“,<br />

sagt Schneidmüller.<br />

Auch für die Städte hat der Historiker gute<br />

Nachrichten. Wer es sich leisten konnte, verließ<br />

zu Pestzeiten zwar die Stadt. „Später wuchsen<br />

die Zentren dagegen umso schneller. Eher dünn<br />

besiedelte Landstriche erholten sich zum<br />

Teil nie mehr“, so Schneidmüller. Auch Stadtplaner<br />

Oßenbrügge glaubt nicht, dass lang fristig<br />

eine Stadtflucht droht: „Städte bleiben die<br />

kreativen Zentren. Daran ändert auch Homeoffice<br />

nichts.“<br />

SORGE UM „GENERATION CORONA“<br />

Was die langfristigen Folgen für Familien und<br />

die „Generation Corona“ angeht, war Sabina<br />

Pauen zu Beginn der Pandemie noch optimistisch.<br />

„Kinder sind sehr anpassungsfähig. Aber<br />

je länger Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen<br />

anhalten, desto deutlicher wirken<br />

sie auf die Entwicklung und die Psyche“, sagt die<br />

Professorin für Entwicklungspsychologie von<br />

der Uni Heidelberg. Gerade in frühen Jahren, in<br />

denen Grundlagen des Sozialverhaltens erlernt<br />

werden, könne der fehlende Kontakt lange<br />

nachwirken. Auch Teenager verpassten 2<strong>02</strong>0<br />

wichtige Meilensteine. Nach Corona sieht<br />

Pauen daher Nachholbedarf, „sowohl beim<br />

Unterrichtsstoff als auch beim Sozialen“.<br />

Ein coronagetriebener Digitalisierungsschub<br />

täte den Schulen gut. „Die neuen Möglichkeiten<br />

sind erst einmal begrüßenswert“, sagt Pauen.<br />

Trotz Rotznase von zu Hause aus am Unterricht<br />

teilnehmen zu können und überhaupt digitale<br />

Lernmedien zu nutzen, das sei nicht nur<br />

in einer Pandemie von Nutzen. Ein Ersatz für<br />

Präsenzunterricht sei es aber nicht. Dazu sei<br />

die Situation in den Familien zu unterschiedlich.<br />

„Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas,<br />

das Ungleichheiten bei den Bildungschancen<br />

verstärkt“, sagt Pauen. „Der Abstand wächst<br />

und ist nur schwer aufzuholen.“ Kämen Krisen<br />

hinzu wie ein Jobverlust der Eltern, konfliktreiche<br />

Enge zu Hause oder gar häusliche Gewalt,<br />

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