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Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122

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Einblick<br />

Das ist schon ziemlich starker Tobak<br />

Interview zu »Tom Sawyer« an der Komischen Oper Berlin<br />

gibt einen Indianer-Joe, den wir Killer-Joe nennen,<br />

Huck raucht Pfeife ...<br />

Tobias Ribitzki: Zum Inhalt des neuen Stückes sollten<br />

ja »Die Abenteuer des Tom Sawyer« werden, da<br />

dieser Stoff für ein jüngeres Publikum geeigneter ist.<br />

Ulrich Lenz: Es ist letztlich nicht klar, was aus<br />

dem Werk geworden wäre, hätte Kurt Weill es<br />

vollendet. Einiges deutet darauf hin, dass Weill<br />

die wesentlich weniger bekannte Fortsetzung von<br />

»Tom Sawyer« – »Huckleberry Finns Abenteuer<br />

und Fahrten« – vertonen wollte. Aber wäre er dabei<br />

geblieben? Wäre daraus am Ende ein <strong>Musical</strong> für<br />

Kinder oder eine Oper für Erwachsene geworden?<br />

blimu: Wie hat die Kurt Weill Foundation auf die<br />

Namensänderung reagiert?<br />

UL: Das bereits existierende Schauspiel mit Musik<br />

hatte die Weill-Songs für die theatrale Umsetzung<br />

von »Tom Sawyer« verwendet, und dies geschah<br />

mit der Zustimmung der Kurt Weill Foundation.<br />

blimu: Wie sind Sie dabei vorgegangen, aus Weills<br />

fragmentarischer Musik ein ganzes Stück zu<br />

konzipieren?<br />

Kai Tietje<br />

Foto: Ludwig Olah<br />

Die Komische Oper Berlin zeigt die Weltpremiere<br />

der Kinderoper »Tom Sawyer« von Kurt Weill. Ist<br />

es eine Wiederentdeckung eines bisher unbekannten<br />

Weill-Stücks? In Weills Biografie findet sich<br />

nichts zu Tom Sawyer, aber zu Huckleberry Finn,<br />

Tom Sawyers Freund. Er spielt in Mark Twains<br />

Roman »Die Abenteuer des Tom Sawyer« eine<br />

große Rolle. Im Nachfolgeroman »Die Abenteuer<br />

des Huckleberry Finn« wird er zur Hauptfigur. Im<br />

Winter 1949/50 begann Weill, daran zu arbeiten;<br />

großes Musiktheater sollte daraus werden. Fünf<br />

Lieder hatte er bereits komponiert, als er im April<br />

1950 plötzlich an den Folgen eines Herzinfarkts<br />

starb.<br />

<strong>Blickpunkt</strong> <strong>Musical</strong> sprach mit den Machern<br />

der Produktion darüber, wie sie aus den Fragmenten<br />

eine ganze Oper geschaffen haben, was<br />

den Namenswechsel veranlasste und wie es zu<br />

dieser Produktion kam. Kai Tietje (Arrangement),<br />

Tobias Ribitzki (Regie) und Ulrich Lenz, der 2018<br />

Chefdramaturg an der Komischen Oper war und<br />

das Projekt leitete, lassen in den Entstehungsprozess<br />

dieses »neuen« Weill-Werks blicken.<br />

blickpunkt musical: Wie kam es dazu, »Tom<br />

Sawyer« an der Komischen Oper aufzuführen?<br />

Ulrich Lenz: Die Komische Oper Berlin präsentiert<br />

seit mehr als 15 Jahren jedes Jahr eine neue<br />

Kinderoper. In den meisten Fällen werden hierzu<br />

Neukompositionen in Auftrag gegeben, hin und<br />

wieder aber auch bereits existierende Werke nachgespielt<br />

– oder vergessene oder verschollene Stücke<br />

wieder ausgegraben und bei Bedarf adaptiert.<br />

Auf der Suche nach einem Stück machte mich<br />

Boris Priebe vom Verlag Felix Bloch Erben auf<br />

die fünf Songs von Kurt Weill aufmerksam, die<br />

einige Jahre zuvor mit Hilfe von John von Düffel<br />

in einem Schauspiel mit Musik verwendet wurden<br />

(2014 am Deutschen Theater Göttingen, Anm. d.<br />

Red.).<br />

blimu: Was führte dazu, das Stück »Tom Sawyer«<br />

zu nennen, wenn Kurt Weill von einem Projekt zu<br />

»Huckleberry Finn« sprach?<br />

Kai Tietje: »Die Abenteuer des Huckleberry Finn«<br />

ist eine Geschichte, die nicht ohne ist. Es geht viel<br />

um Sklaverei, um Themen, die uramerikanisch,<br />

aber vielleicht keine Themen für eine Kinderoper<br />

in Deutschland sind. Auch bei »Tom Sawyer« hat<br />

man schon einiges in Sachen Political Correctness<br />

hinzunehmen. Es geht um Mord und Totschlag, es<br />

UL: Die Grundlage war zunächst der Text, den<br />

John von Düffel für das bereits existierende Schauspiel<br />

mit Musik geschrieben hatte.<br />

KT: Dann gab es diese fünf Songs von Kurt Weill,<br />

von denen man nicht weiß, in welchem szenischen<br />

Zusammenhang sie gestanden hätten, weil ihr<br />

Bezug nicht klar definiert ist, und weil sie ja auch<br />

für die andere Handlung – den Fortsetzungsband –<br />

geschrieben wurden. Das heißt, die Songs mussten<br />

einen Platz bekommen. Außerdem braucht es für<br />

ein Musiktheater-Werk viel mehr Musik.<br />

Die Kurt Weill Gesellschaft bestand darauf, hierfür<br />

Lieder vom amerikanischen Weill zu nehmen<br />

und am liebsten die, die nicht so oft gespielt werden.<br />

Dazu haben sie uns als Quelle u. a. ein anderes<br />

Stück empfohlen, das nicht vollendet ist: »Ulysses<br />

Africanus«. Der Name klingt sehr trocken, aber<br />

die Musik ist das Gegenteil davon. Die Musik ist<br />

Ragtime-artig, sehr amerikanisch, sehr hell und<br />

agil. Das hat sich sofort aufgedrängt. Regisseur<br />

Tobias Ribitzki hatte auch Titel empfohlen, wie ›A<br />

Rhyme for Angela‹ aus »Firebrand of Florence«, oder<br />

›Clickety-Clack‹ aus »Knickerbocker Holiday«, die<br />

wir ebenso einfügten.<br />

TR: Zunächst war es für uns entscheidend, die<br />

bereits existierenden Songs möglichst originalgetreu<br />

zu übersetzen und sie in das fertige Stück so<br />

einzubauen, dass sie dramaturgisch passen. Dabei<br />

war es uns auch wichtig, eng der Dramaturgie der<br />

30<br />

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