<strong>Musical</strong>s in der Welt Rafael (Míchel Alejandro Castillo, l.) und Isabella (Monica Tulia Ramirez, Mitte) beobachtet von Ensemble (Graham Bourne) streiten sich. Isabella möchte unbedingt in Ivans Nachtclub singen Grace (Devonecia Swartz) und Rafael (Míchel Alejandro Castillo mit Ensemble) sind geschockt von dem Mord an Ben, der Rafael in die Schuhe geschoben werden soll Angie (Hanna So) versucht gemeinsam mit dem Ensemble (Gabriela Dos Santos), Grace (Devonecia Swartz) zu überzeugen, Ivan im Nachtclub zu besuchen Lindiwe (René Setlhako, Mitte), Ensemble (Annie Williams, l., Isabella Jane, r.) arbeiten in einer Fischfabrik am Hafen einer amerikanischen Großstadt Ivan (Mthokozisi Emkay Khanyile mit Ensemble) ist ein gefürchteter lokaler Gangster Fotos (5): Daniel Rutland Manners 72 blickpunkt musical <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>3
Einblick Ich brauche die Stille und Intensität, um die Erfahrungen meiner Figuren nachzuempfinden Autorin und Komponistin Alice Gillham über»Calling Us Home« Da herrscht dann so eine große Freude und es gibt so viel zu lernen – da sehne ich mich manchmal nach der Ruhe meines kreativen Schutzraums zurück. blimu: Im Gegensatz zum bedrohlichen Zustand dieser Erde transportieren Ihre Werke stets lebensbejahende Botschaften. Woher nehmen Sie diese Kraft? AG: Ich bin nicht so stark, wie manche Leute denken. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mich mein Drang zu schreiben und zu komponieren, stets vorwärts treibt. Ich hoffe, dass meine Stücke, die allesamt unsere Hoffnung und Fähigkeit zum Widerstand zelebrieren, andere Menschen genau darin bestärken. Foto: privat blickpunkt musical: Frau Gillham, die meisten <strong>Musical</strong>s basieren auf Romanen oder Filmen. »Calling Us Home« ist eine neue, herzergreifende Geschichte. Was inspirierte Sie zu dem Stück? Alice Gillham: Vor einigen Jahren ging ich durch die Straßen Londons. Ich fühlte mich sehr allein unter dem grauen Himmel im kalten Regen. Als ich um mich blickte, sah ich viele Menschen, die, wie ich, aus unterschiedlichen Teilen der Welt kamen. Ich fragte mich, wie sie wohl mit ihrem Heimweh umgehen und ob es ihnen gelänge, wieder einen Ort zu finden, den sie »Zuhause« nennen könnten? »Calling Us Home« behandelt diese Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln. blickpunkt musical: Pandemie, Krieg und Klimakrise veränderten die Welt einschneidend. Wie hat das Ihr Werk beeinflusst? AG: Ich wollte über die Geschichte und insbesondere den emotionalen Einfluss meiner Musik beschreiben, dass wir Menschen die Möglichkeit haben, uns mit aller Macht und Widerstand den globalen Herausforderungen zu stellen. »Calling Us Home« zeigt auf, dass wir zu allem fähig sind, solange wir Hoffnung und Liebe am Leben erhalten. blimu: Für »Calling Us Home« haben Sie ein internationales Team zusammengestellt. Der Regisseur kommt aus New York, die Kostümbildnerin aus Taiwan. Wie konnten Sie die Produktion vorausplanen? Immerhin befanden wir uns noch inmitten der Pandemie. AG: Die Pandemie hat uns alle schwer getroffen. Es gab Tage, da war ich ängstlich und dachte, es bricht mir das Herz. Aber während der Krise war ich mehr denn je davon überzeugt, das »Calling Us Home« genau eine jener Geschichten ist, die die Menschen hören wollen. Das bestärkte mich darin, an die Botschaft der Geschichte zu glauben und nach Mitstreitern zu suchen, die diesen Glauben teilen. Ich wusste, dass die Pandemie eine enorme Auswirkung auf den Zeitplan nehmen würde, also hielt ich durch und arbeitete weiter, stets darauf bedacht, dass es sich nicht um eine rein afrikanische Geschichte handeln sollte. Sie soll global gültig sein und verschiedene Perspektiven vieler Menschen weltweit widerspiegeln. Ich entschied mich für einen Regisseur und einige kreative Köpfe und Darstellerinnen und Darsteller, die nicht aus Südafrika stammen. Dafür wurde ich reich belohnt, denn ich fand in Peter Flynn einen sensiblen und brillanten Spielleiter, den Lichtdesigner Alan Edwards, unsere Kostümbildnerin Pei Lee und die beiden Hauptdarsteller, deren Migrationshintergrund als Südafrikaner in den USA mit denen ihrer Figuren identisch ist. blimu: Die gesamte Arbeit bestreiten Sie fast im Alleingang. Haben Sie keine Angst vor Einsamkeit? AG: Ich erlebe sie, aber ich fürchte sie nicht. Sie gehört zum Schreiben und Komponieren dazu. Ich brauche die Stille und Intensität, um die Erfahrungen meiner Figuren nachzuempfinden und jeder von ihnen einen eigenen, musikalischen Ausdruck verleihen zu können. Wenn es zur Produktion kommt, ist das alles andere als einsam. Das fühlt sich dann an wie ein fantastischer Sturm von Menschen, ihrem Tun und ihren Herausforderungen. blimu: »Calling Us Home« ist ein Fest des Lebens, aber auch von politischer Brisanz – gerade heutzutage, da sich über hundert Millionen Vertriebene auf der Flucht befinden. Die Menschen sehen sich Hass und Rassismus ausgeliefert. Haben Sie das in Ihre Gedanken eingebunden? AG: Natürlich. Man kann diese Reaktionen nicht ignorieren. Millionen von Menschen, überall auf der Welt, müssen an einem gewissen Punkt des Lebens die Flucht ergreifen – heute wie zu Zeiten ihrer Ahnen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ich verstehe, dass das in großer Furcht und Ablehnung resultieren kann. Aber ich denke, dass wir es uns nicht leisten dürfen, Freundlichkeit und Mitgefühl aus den Augen zu verlieren, wenn wir mit dem Leiden anderer konfrontiert sind. Jede Figur aus »Calling Us Home« ist ein menschliches Individuum, keine Zahl in einer Statistik. Das Stück dreht sich darum, Empathie und Zärtlichkeit wachzurufen. Es veranstaltet keine Trommelwirbel oder positioniert sich politisch. Ich glaube zutiefst daran, dass Kunst und Musik direkt unsere Gefühle und Herzen ansprechen, und dass dies ein Weg sein kann, die Welt zu verändern. blimu: Ihre Musik und Worte sind voller Freude und Hoffnung. Im Mittelpunkt steht das Thema »Heimat«. Wo ist Ihre Heimat? Haben Sie diese schon gefunden? AG: Die Heimat meines Herzens ist Afrika. blimu: Wir bedanken uns für das informative Interview. Das Interview führte Daniel Call blickpunkt musical <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>3 73