Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122
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<strong>Musical</strong>s in Österreich<br />
Abb. unten von oben links:<br />
1. Balaga (Karsten Kenzel) und<br />
Ensemble tanzen einen grandiose<br />
Choreographie als Auftakt von<br />
Anatols Flucht mit Natascha<br />
2. Marja D. (Sanne Mieloo, l.) führt<br />
ihr Patenkind Natascha (Hanna<br />
Kastner, r.) in die Gesellschaft<br />
Moskaus ein<br />
3. Dolochow (Lukas Sandmann,<br />
vorne Mitte) wird bei einem Duell<br />
von Pierre (Christian Fröhlich, r.)<br />
verwundet<br />
4. Natascha (Hanna Kastner, r.)<br />
entdeckt, wie wunderbar das<br />
freizügige Leben sein kann<br />
Fotos (4): Reinhard Winkler<br />
für kraftvolle Tanzszenen zeigen. Wunderbare Sequenzen,<br />
insbesondere in ›Balaga‹, bündeln wirklich alles,<br />
hier verschmelzen Körper und Musik zu einem Kometen<br />
voller Energie, der seine Bahn direkt über dem<br />
Publikum zieht.<br />
Mindestens genauso bemerkenswert sind die<br />
Kostüme von Edwards, die den Gegenpol seiner eher<br />
schlichten Bühnengestaltung darstellen. So wie er sich<br />
da zurückgehalten hat, hat er bei der Gestaltung der<br />
Kleidung mit Stoffen und Ideen geprotzt. Wunderschöne<br />
Kostüme, sowohl für die Herren als auch für<br />
die Damen, sind entstanden: Prunkvolle Stoffe führen<br />
in das wohlhabende, funkelnde Moskau der damaligen<br />
Zeit, die Schnitte hingegen bringen einen direkt<br />
in das Jetzt und entsprechen so dem modernen Stil der<br />
Inszenierung. Die sexuelle Energie, die in dieser historischen<br />
Zeit wohl durchaus bei den großen Festen<br />
der russischen Gesellschaft in der Luft lag, bündelt<br />
Edwards insbesondere bei den Kleidern der Frauen, die<br />
auf der einen Seite ausladend und stilvoll geschnitten,<br />
aber gleichermaßen mit Minirock und halterlosen<br />
Strümpfen ein absoluter Hingucker sind.<br />
Tom Bitterlich hat die musikalische Leitung inne,<br />
was in diesem Fall noch herausragender erscheint,<br />
nicht nur wegen der sicherlich schwierigen, weil so<br />
enorm vielseitigen Partitur, sondern auch, weil Teile<br />
des Orchesters immer wieder auf der Bühne und im<br />
Zuschauerraum mitspielen, ebenso wie die Darsteller,<br />
zum Beispiel Christian Fröhlich, selbst auch immer<br />
wieder zum Instrument greifen. Ihm gelingt all das<br />
mit der klaren, kraftvollen Führung, die hier von den<br />
Noten gefordert wird.<br />
»Natascha, Pierre und der große Komet von 1812«<br />
wurde am Broadway für zwölf Tonys nominiert, völlig<br />
zurecht. Nachdem es dann allerdings in fast allen<br />
Kategorien gegen »Dear Evan Hansen« verloren hat,<br />
begann ein Strudel aus finanziellen Einbußen bei<br />
den Ticketverkäufen und der unglücklich gelaufenen<br />
Nachbesetzung des Pierre, welche in einem Shitstorm<br />
mündete. Es folgte das alsbaldige Ende eines Stücks,<br />
das zuvor hochgelobt wurde als ein noch nie dagewesenes<br />
Theater-Erlebnis. Dass sich Linz nun dieses Werks<br />
angenommen und es qualitativ so hochwertig umgesetzt<br />
hat, verdient größten Respekt – sowohl für den Mut<br />
gegenüber dem Stück als auch für das finanzielle Stemmen<br />
dieser Produktion, die einer Großproduktion absolut<br />
in nichts nachsteht. Ob es hierzulande als Longrun<br />
funktionieren würde? Ähnlich wie »Hamilton«, was das<br />
vergleichbarste <strong>Musical</strong> ist, vermutlich nicht. Doch,<br />
nachdem das Ensemble im Stück wiederholt auffordert:<br />
»Lest! Lest Tolstoi!«, so muss man hier jeden <strong>Musical</strong>begeisterten<br />
eindringlich auffordern: Geht! Geht ins<br />
Musiktheater Linz!<br />
Sabine Haydn<br />
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