Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Musical</strong>s in Österreich<br />
Pure Bühnenenergie als Erlebnis<br />
»Natascha, Pierre und der große Komet von 1812« in Linz erstmals in deutscher Sprache<br />
Abb. oben:<br />
Pierre (Christian Fröhlich, Mitte mit<br />
Ensemble) resümiert über seinen<br />
Wunsch, mehr zu sein als Staub<br />
und Asche<br />
Foto: Reinhard Winkler<br />
Natascha, Pierre und<br />
der große Komet von 1812<br />
Dave Malloy<br />
Deutsch von Roman Hinze<br />
Landestheater Linz<br />
Musiktheater am Volksgarten –<br />
Großes Haus<br />
Deutschsprachige Erstaufführung:<br />
11. Februar 2<strong>02</strong>3<br />
Regie ......................... Matthias Davids<br />
Musikalische Leitung .... Tom Bitterlich<br />
Choreographie ................. Kim Duddy<br />
Ausstattung ......... Andrew D. Edwards<br />
Lichtdesign ........... Michael Grundner<br />
Natascha ..................... Hanna Kastner<br />
Pierre ..................... Christian Fröhlich<br />
Anatol .......................... Gernot Romic<br />
Sonja .......... Lisa Antoni / Judith Jandl<br />
Marja D. ...................... Sanne Mieloo<br />
Hélène ........................... Daniela Dett<br />
Dolochow ............... Lukas Sandmann<br />
Mascha / Magd / Opernsängerin .........<br />
Celina dos Santos<br />
Andrej / Bolkonski / Opernsänger .......<br />
Joel Parnis<br />
Balaga ......................... Karsten Kenzel<br />
Diener ...................... Bettina Schurek<br />
Roving Violins ....... Alexandra Frenkel,<br />
Verena Nothegger<br />
Roving Viola ............... Luciana Zadak<br />
Roving Clarinet ............ David Decker<br />
Roving Guitars ... Maurice-Daniel Ernst,<br />
Alexander Bambach<br />
Roving Accordions ..... Atanas Dinovski,<br />
Manuela Kloibmüller, Yevgenij Kobyakov<br />
Tanzensemble des Landestheater Linz<br />
Wer die Entscheidung trifft, aus Tolstois Roman<br />
»Krieg und Frieden« ein <strong>Musical</strong>, oder in den<br />
Worten des Autors, eine Electropop-Oper zu kreieren,<br />
muss viel Mut aufbringen. Auf rund 2.000 Seiten versuchte<br />
Tolstoi, auf alle Aspekte des Lebens einzugehen,<br />
Geflechte des menschlichen Miteinanders ebenso wie<br />
politische Strukturen aufzuzeigen. Dave Malloy hat<br />
sich für gut 70 Seiten aus dem Epos entschieden, die er<br />
so zusammengefasst hat, dass sie in rund 2,5 Stunden<br />
Spielzeit passen, vollgepackt mit Informationen, Emotionen<br />
und musikalischen Erlebnissen. Denn neben<br />
der zusammengerafften Geschichte rund um Natascha<br />
und Pierre ist es vor allem die Musik, mit der Malloy<br />
ein Gesamtkunstwerk erschaffen hat. Er zitiert weise<br />
jede erdenkliche Musikstilistik, verbindet Hip-Hop<br />
mit Klassik, um immer wieder zurück zu russischer<br />
Folkmusik und Electronic Dance Music zu kommen.<br />
Dieser weite Bogen gelingt ihm vor allem deswegen so<br />
beeindruckend gut, weil er allen Charakteren musikalische<br />
Eigenheiten zugeschrieben hat, die, egal in<br />
welcher stilistischen Umsetzung, immer hörbar bleiben<br />
und so die Fäden miteinander verbinden. Kompositorisch<br />
steht er damit Tolstois schriftstellerischem<br />
Können in nichts nach. So wie der Autor mit den Verflechtungen<br />
der Geschehnisse den Leser herausfordert,<br />
fordert Malloy die Hörer heraus, sich ebenso intensiv<br />
mit der Musik zu beschäftigen und dabei immer wieder<br />
neue Aspekte zu entdecken. Auf textlicher Ebene<br />
ist Malloy bestrebt gewesen, Tolstois Werk demütig<br />
entgegenzutreten und zu würdigen. Er übernimmt<br />
seine Erzählweise, lässt die Figuren teils über sich<br />
selbst in der dritten Person berichten und verzichtet<br />
immer wieder auf die sonst so üblichen Reime, um<br />
Original-Zitate mit seinen textlichen Bearbeitungen zu<br />
kombinieren und so die Sprache Tolstois in die heutige<br />
Zeit und die damit verbundenen Hörgewohnheiten zu<br />
transponieren. Die deutsche Übersetzung von Roman<br />
Hinze ist sehr nah am Original geblieben und funktioniert<br />
trotz der sprachlichen Herausforderungen, die<br />
das Stück mit sich bringt, sehr gut.<br />
Gleich mit der großen Eröffnungsnummer legt<br />
Malloy den Ton seiner Erzählung fest. Wenn Pierre<br />
(Christian Fröhlich) mit dem Akkordeon in der Hand<br />
die Bühne betritt, beginnt eine äußerst kraftvolle<br />
Nummer im »Ich packe meinen Koffer und nehme<br />
mit …«-Stil, bei der sich nach und nach alle Rollen<br />
mit ihren hervorstechendsten Eigenschaften vorstellen,<br />
die dann, immer wieder aneinandergereiht, aufgezählt<br />
werden, sodass der Zuschauer trotz der Fülle an<br />
Informationen und Menschen hinterher sehr genau<br />
weiß, um wen es geht und wie die Verbindungen der<br />
einzelnen Figuren zueinander ist. Natascha (Hanna<br />
Kastner) wird als sechzehnjähriges, naives Mädchen zu<br />
ihrer Patentante Marja (Sanne Mieloo) nach Moskau<br />
geschickt, um dort auf die Rückkehr ihres Verlobten<br />
Andrej (Joel Parnis) zu warten, der sich gerade als<br />
Soldat im Krieg befi ndet. Bei einer Opernvorstellung<br />
lernt sie dann Anatol (Gernot Romic) kennen, einen<br />
Casanova, der sich sofort in sie verliebt. Obwohl selbst<br />
verheiratet, macht er ihr den Hof und verdreht ihr den<br />
Kopf. Anatols Schwester Hélène (Daniela Dett), selbst<br />
kein Kind von Traurigkeit und Ehefrau des von Selbstzweifeln<br />
getriebenen Pierres, unterstützt ihren Bruder<br />
in seinem Vorhaben, doch die große, geplante Liebesflucht<br />
misslingt, nachdem Marja alles aufgedeckt hat.<br />
Natascha steht am Ende ohne Andrej und ohne Anatol<br />
da, hat aber mit Pierre einen neuen, guten Freund<br />
gefunden, der wiederum in der Begegnung mit ihr und<br />
bei Sichtung des Kometen 1812 ein neues Lebensgefühl<br />
voller Hoffnung entwickelt.<br />
Energetisch – dies ist das einzige Wort, welches die<br />
Leistung des gesamten Ensembles wirklich beschreiben<br />
kann. Von der ersten Sekunde an bis zur letzten<br />
Verbeugung ist jeder Einzelne bei der Sache und strahlt<br />
52<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>3