Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122
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<strong>Musical</strong>s in Deutschland<br />
Liebe, Musik und eine Begegnung, die so nie stattfand<br />
Uraufführung von »Bésame Mucho« an der Neuköllner Oper Berlin<br />
Abb. oben von links:<br />
1. Zwei fremde Komponisten, die<br />
sich nie begegnet sind: Enrique<br />
Granados (Christian Camino)<br />
und Consuelo Velázquez (Ana<br />
Schwedhelm)<br />
2. Consuelo Velázquez’ (Ana<br />
Schwedhelm, Mitte) großer Erfolg:<br />
›Bésame Mucho‹ (Lukas Fröhlich, l.,<br />
Danai Vritsiou, r.)<br />
Fotos (2): Thomas Koy<br />
Bésame Mucho<br />
Malte Giesen / Bernhard Glocksin /<br />
Albert Tola<br />
Neuköllner Oper Berlin<br />
Uraufführung: 17. Februar 2<strong>02</strong>3<br />
Regie ................................ Ana Cuéllar<br />
Musikalische Leitung &<br />
Klavier ........................... Danai Vritsiou<br />
Arrangements &<br />
Sounddesign ................... Malte Giesen<br />
Ausstattung ..................... Elionor Sintes<br />
Maske .................... Anne-Claire Meyer<br />
Licht ........................... Torsten Litschko<br />
Enrique Granados u. a. .........................<br />
Christian Camino<br />
Consuelo Velázquez u. a. .....................<br />
Ana Schwedhelm<br />
Klavierspieler ............... Danai Vritsiou<br />
Trompetenspieler u. a. ..........................<br />
Lukas Fröhlich / Fabian Engwicht<br />
Die mexikanische Komponistin Consuelo Velázquez<br />
sang 1941 in jungen Jahren »Bésame,<br />
Bésame Mucho« – »Küss mich, küss mich oft«, damals<br />
im Stil des Bolero, und schuf damit einen Hit und<br />
Jazzstandard, der im Lauf der Jahrzehnte zu einem<br />
regelrechten Sammelsurium an Interpretationen in<br />
Genres wie Klassik, Chanson oder Tango inspirierte.<br />
»Bésame Mucho«, die neue Theaterproduktion der<br />
Neuköllner Oper Berlin, geht hier auf Spurensuche<br />
und nimmt das Publikum auf eine mysteriöse Reise<br />
zwischen Liebe und Tod und durch das Leben einer<br />
Komponistin und eines Komponisten mit. Erstere ist<br />
die bereits erwähnte Mexikanerin Consuelo Velázquez,<br />
zweiterer ist Enrique Granados, der zum Zeitpunkt des<br />
Höhenflugs des Schlagertitels bereits seit 25 Jahren<br />
tot war. Vom spanischen Pianisten Granados, der zu<br />
seiner Zeit als großer Komponist von Klavierwerken<br />
und Opern gehandelt wird, stammt die Melodiezeile,<br />
die Velázquez später berühmt machte. Granados starb<br />
1916, Velázquez wurde in diesem Jahr erst geboren, so<br />
mutet die Verbindung zwischen den beiden durch eine<br />
einzige Melodie und ihr gemeinsames Komponisten-/<br />
Pianistendasein genauso schicksalhaft wie geheimnisvoll<br />
an. »Bésame Mucho« lässt beide Persönlichkeiten<br />
symbolisch aufeinandertreffen und zieht die biografischen<br />
Lebenslinien parallel nach:<br />
Enrique Granados arbeitet in den Jahren vor seinem<br />
Tod im Auftrag der Pariser Oper und später der New Yorker<br />
Metropolitan Opera eins seiner wichtigsten Werke in<br />
eine Oper um. Er fährt mit seiner Ehefrau María de los<br />
Desamparados Gal y Lloveras zur Aufführung der Oper<br />
nach New York. Dort wird er gefeiert und von Präsident<br />
Woodrow Wilson ins Weiße Haus eingeladen. Diese<br />
schicksalhafte Einladung führt dazu, dass das Paar mit<br />
einem späteren Schiff zurückfahren muss. Die französische<br />
Fähre »Sussex« wird auf der Fahrt von einem deutschen<br />
U-Boot am Übersetzen gehindert und dabei beschädigt.<br />
Granados wird gerettet, stürzt sich jedoch in den Ärmelkanal,<br />
um seine Frau zu retten, und beide ertrinken.<br />
Consuelo Velázquez machte zu einer anderen Zeit<br />
eine ebenso drastische Erfahrung durch: die schmerzhafte<br />
Trennung von ihrem Geliebten Mariano Rivera Conde,<br />
die sie einsam, verletzt und uninspiriert zurücklässt. 1944<br />
heiratete Velázquez Conde, der 1977 starb. Den Leiter des<br />
mexikanischen Radiosenders XEQ und zukünftigen Produzenten<br />
sowie Ehemann lernte sie durch ihre Arbeit als<br />
Interpretin des Klassikprogramms kennen. Sie stellte ihm<br />
einige Eigenkompositionen vor, unter anderem ›Bésame<br />
Mucho‹. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Lied zur Liebeshymne<br />
für alle durch ihn getrennten Paare.<br />
Das spanische Kammerspiel mit Text von Bernhard<br />
Glocksin und Albert Tola und Musik von Malte Giesen<br />
sucht Gemeinsamkeiten zwischen den Biografien und<br />
findet emotionale Parallelen, die im ohne Pause und<br />
mit atmosphärischem Fluss aufgeführten Stück zu einer<br />
überirdischen Bedeutung zwischen zwei Leben und zwei<br />
Lieben werden und außerdem von einer besonderen<br />
Verbindung zur Musik erzählen. Die dramatisch dichte<br />
Inszenierung erzeugt dabei Gänsehaut. Das geschieht<br />
mit künstlerischen Mitteln wie Schattenbildern, kakophonischer<br />
Hintergrundmusik oder der Darstellung<br />
alptraumhafter und bisweilen surrealer Szenarien wie in<br />
Gemälden und Zeichnungen des spanischen Malers Francisco<br />
de Goya. Dabei wird auf den virtuosen Klavierzyklus<br />
»Goyescas« von Granados Bezug genommen, der ›Quejas<br />
ó la Maja y el Ruiseñor‹ und somit die Grundlage für<br />
Consuelo Velázquez’ Erfolgstitel ›Bésame Mucho‹ enthält.<br />
Christian Camino und Ana Schwedhelm beweisen mit<br />
den ausgewählten Liedern ihre geschulten Opernstimmen<br />
und überzeugen darstellerisch mit beschwörenden<br />
Blicken, auf das zukünftige Geschehen anspielenden<br />
Dialogen und Bühnenpräsenz. Danai Vritsiou begleitet<br />
sie mit gekonntem Spiel, wenn diese nicht selbst die Tasten<br />
führen können – etwa sich auf dem Klavier sehnend<br />
räkelnd. Die Lieder werden in die Handlung eingepasst<br />
als Auftrit oder als ein angespielter Auszug aus dem Radio,<br />
als übungshaftes Spiel oder Suche nach Inspiration. Vritsiou<br />
und die beiden Trompetenspieler Lukas Fröhlich und<br />
Fabian Engwicht nehmen auch als mysteriöse Schatten,<br />
Leben oder Tod darstellerisch Platz auf der Bühne ein, auf<br />
welcher sich Leben, Tod und die Liebe zu einer Begegnung<br />
vereinen, die es so nicht gegeben hat.<br />
Rosalie Rosenbusch<br />
40<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>3