Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122
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<strong>Musical</strong>s on Tour<br />
Noch nie machte Tanz in einem <strong>Musical</strong> so<br />
viel Sinn »West Side Story« on Tour in Wien<br />
Abb. oben:<br />
Beim ›Dance at the Gym‹<br />
(Ensemble) sehen sich Maria<br />
(Melanie Sierra, vorne l.) und Tony<br />
(Jadon Webster, vorne r.) das erste<br />
Mal<br />
Abb. unten:<br />
Zusammen träumen Maria<br />
(Melanie Sierra) und Tony (Jadon<br />
Webster) davon, die Rivalitäten<br />
beenden zu können und eine<br />
glückliche Zukunft zu haben<br />
Fotos (2): Johan Persson<br />
Während sich andere gerade in Rente begeben,<br />
erhob sich am 16. Dezember 2<strong>02</strong>2 in München<br />
die »West Side Story« mit ihren 65 Jahren zu einem<br />
erneuten Triumphzug durch die weltweiten Theater.<br />
Sicherlich mit ausgelöst durch den äußerst erfolgreichen<br />
Film von Steven Spielberg, aber auch, weil die<br />
Musik von Leonard Bernstein nie an ihrer Ausdruckskraft<br />
eingebüßt und die Geschichte über Fremdenhass<br />
und Banden-Rivalität aus der Feder von Arthur<br />
Laurens (Buch) und Stephen Sondheim (Liedtexte)<br />
unglücklicherweise ebenso wenig an Aktualität verloren<br />
hat. Während die Jugendgangs »Jets« und »Sharks«<br />
sich gegenseitig bepöbeln und die Polizei häufig völlig<br />
machtlos daneben steht, fühlt man sich – traurig genug<br />
– mehr an das Hier und Jetzt erinnert, als dass man das<br />
Gefühl hätte, eine jahrzehntealte Geschichte zu sehen,<br />
deren Ideen-Grundlage mit Shakespeares »Romeo<br />
und Julia« sogar noch viel, viel weiter zurückreicht. In<br />
dieser Atmosphäre gegenseitiger Anfeindungen passiert<br />
etwas, was so auch heute – Gott sei Dank – noch<br />
immer passiert: Zwei Menschen – Maria und Tony –<br />
sehen und verlieben sich, ungeachtet all der Dinge, die<br />
um sie herum geschehen. In ihrer Verliebtheit träumen<br />
sie davon, dass sie diejenigen sind, die die Realität<br />
beeinflussen und vielleicht sogar verändern können.<br />
Sie verkörpern alles, was nur Jugend verkörpern kann<br />
– unreflektierte Liebe, uneingeschränkte Träume ihrer<br />
Zukunft. Doch kaum haben sie sich gefunden, werden<br />
sie von der harten Realität eingeholt – bei einem<br />
Straßenkampf wird Riff, Tonys bester Freund, erstochen.<br />
Dieser wiederum tötet daraufhin in blinder Wut<br />
Bernardo, Marias Bruder. Während Maria ihm blind<br />
verzeiht, gelingt dies bei weitem nicht allen – und erst<br />
mit dem Tod Tonys wird auf beiden Seiten der Gang<br />
erkannt, dass der Hass sinnlos ist und zu völlig unnötigem<br />
Leid führt.<br />
Nicht nur Musik und Text sind bei diesem <strong>Musical</strong><br />
schon 65 Jahre alt, auch die Choreographie von<br />
Jerome Robbins wurde von Julio Monge lediglich in<br />
ein frischeres Gewand gekleidet, aber im Grunde nicht<br />
verändert. Doch eins wird völlig klar, Szene für Szene,<br />
Takt für Takt, dies ist eine Tanz-Choreographie, wie sie<br />
besser nicht auf einer <strong>Musical</strong>bühne möglich ist. Hier<br />
passt jedes Fingerschnippen, jede Fußbewegung, jeder<br />
Körper bewegt sich in einer Perfektion zu der Musik,<br />
dass sich schon alleine deshalb ein Besuch dieser Tour<br />
lohnt. Natürlich spielt auch die Regie von Lonny Price<br />
eine große Rolle, die hier mit zu diesem energetisch voll<br />
aufgeladenen Erlebnis führt. Sein sehr junges Ensemble<br />
führt er mit einer Klarheit, die beeindruckend ist und<br />
selbst auf die hintersten Reihen eines Theaters überspringt.<br />
Er versteht es, selbst in den größten Szenen noch<br />
mit minimalen Gesten eine Intimität des Momentes zu<br />
schaffen, die eine ungeahnte Nähe zu den Figuren entstehen<br />
lässt. Die Geschichte ist ganz klar erzählt – in<br />
jeder Bewegung, jedem Blick der einzelnen Figuren,<br />
egal, ob Haupt- oder Nebenrolle. Price hatte grundlegende<br />
Visionen von Emotionen, die er dem Publikum<br />
bieten wollte, und hat es geschafft, diese minutiös<br />
umzusetzen.<br />
Das tourneetaugliche Bühnenbild von Anna Louizos<br />
überrascht mit einer Vielfältigkeit, die die drehbaren<br />
Hausteile mit sich bringen. Vom kalten, grauen Straßenzug<br />
bis hin zum farbenfrohen Bekleidungsgeschäft<br />
und einer Turnhalle – man ist sofort im Moment.<br />
Unterstützend und ebenfalls bemerkenswert ist hier<br />
das Lichtdesign von Fabrice Kebour, denn all die verschiedenen<br />
Stimmungen, die er mit seiner Crew auf die<br />
Bühne zaubert, sorgen für die gedanklichen Räume und<br />
Stimmungen, die allein vom Bühnenbild selbst nicht<br />
hergestellt werden könnten. Um den Gesamteindruck,<br />
dass hier wirklich alle Gewerke in perfekter Abstimmung<br />
miteinander gearbeitet haben, noch zu verstärken,<br />
wurde das Kostümdesign von Alejo Vietti ebenfalls sehr<br />
klar angelegt: Die beiden Gangs unterscheiden sich<br />
nicht nur im Tanzstil und Verhalten, sondern auch die<br />
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